Beide nationalen Vorlagen scheitern
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Beide nationalen Vorlagen scheitern

22.09.2024 11:55 - update 22.09.2024 21:17
Larissa Bucher

Larissa Bucher

Nein zur BVG-Reform, Nein zu mehr Biodiversität: Während es bei Förderung der biologischen Vielfalt beim Status quo bleiben soll, herrscht Einigkeit, dass eine Reform der zweiten Säule notwendig ist.

Die jahrelangen Reformarbeiten bei der zweiten Säule sind gescheitert. Die Stimmbevölkerung hat die Pensionskassen-Vorlage am Sonntag mit 67 Prozent Nein-Stimmen verworfen. Damit bleibt alles beim Alten. Den Reformstau aufzulösen, dürfte schwierig bleiben. Gemäss den Endresultaten aus den Kantonen sagten 1’655’300 Stimmende Nein zur BVG-Reform, 810’800 befürworteten sie. Die Stimmbeteiligung lag bei rund 45 Prozent.

Der Blick auf die Abstimmungskarte zeigt eine seltene Eintracht: Alle Kantone lehnten die Vorlage ab. Der Nein-Stimmen-Anteil reicht von 57 Prozent in Zug bis zu 77 Prozent im Jura und in Neuenburg. In rund fünfzig Gemeinden gab es ein Nein von über 81 Prozent. Nur 26 von 2126 Gemeinden befürworteten die Pensionskassenreform.

Das Nein an der Urne kam nicht überraschend. Die Deutlichkeit des Resultats erstaunt jedoch: Die letzten Abstimmungsumfragen gingen von Nein-Anteilen von 51 Prozent (SRG) sowie 59 Prozent (Tamedia/»20 Minuten») aus.

Politologe spricht von «Ohrfeige»

Laut Politologe Urs Bieri vom Forschungsinstitut gfs.bern hat es Misstrauen gegeben, ob die Probleme bei der Finanzierung der zweiten Säule wirklich real sind. «Ein gemeinsames Problembewusstsein war nicht vorhanden.» Lukas Golder, ebenfalls Politologe von gfs.bern, sprach im Schweizer Fernsehen SRF von einer «Ohrfeige» und einer «Klatsche».

Die Vorlage zur Reform der zweiten Säule war im Abstimmungskampf hoch umstritten. Die Befürworter-Seite sprach von einem «guten Kompromiss», die Gegnerinnen und Gegner bezeichneten die Reform als «miserabel und grottenschlecht». Im Fokus stand unter anderem die Komplexität der Vorlage. Auch die vom Bund falsch publizierten Zahlen zur AHV waren offenbar Wasser auf die Mühlen der Gegnerschaft.

Mit dem Nein bleibt der Reformstau in der Altersvorsorge bestehen. Seit der Einführung der zweiten Säule im Jahr 1985 wurde das Bundesgesetz über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge (BVG) erst einmal umfassend reformiert, nämlich in den Nuller-Jahren. Seither sind mehrere Reformversuche gescheitert. Nun beginnen die Arbeiten erneut auf Feld eins.

Status quo beim Mindestumwandlungssatz

Die gescheiterte BVG-Reform sollte die zweite Säule der Altersvorsorge finanziell stabilisieren, vor dem Hintergrund der wachsenden Zahl von Rentnerinnen und Rentnern, der steigenden Lebenserwartung und von sinkenden Renditen. Der Mindestumwandlungssatz für die Berechnung der Renten im obligatorischen Teil der Versicherung wäre von 6,8 auf 6 Prozent gesunken.

Dazu kommt es nun nicht. Auch die weiteren Punkte der Reform werden nicht umgesetzt: Menschen mit tiefen Einkommen im Alter hätten besser abgesichert werden sollen, sie und ihre Arbeitgeber aber auch mehr in die zweite Säule einzahlen müssen.

Die Pensionskassenreform hätte nach Angaben des Bundes vor allem Erwerbstätige betroffen, die nach BVG-Minimum oder nur wenig mehr versichert sind. Für wen die Reform wie ausgesehen hätte, wäre von der persönlichen Situation abhängig gewesen – etwa der beruflichen Laufbahn und dem Reglement der Vorsorgeeinrichtung.

Grosser Erfolg für die Linke

Ein Erfolg ist das Nein für die Linke. Erneut hat sie bei einem sozialpolitischen Anliegen die Mehrheit der Bevölkerung überzeugen können. Die vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB) angeführte Kampagne fokussierte auf den Slogan, wonach mehr Menschen unter der Reform gelitten als profitiert hätten.

Zudem hätten die Pensionskassen in den vergangenen zehn Jahren hohe Renditen erzielt und würden «in Geld schwimmen», monierten die Gegnerinnen und Gegner. Unterstützt wurde die Linke im Abstimmungskampf von acht Wirtschaftsverbänden. Die Vorlage führe zu Fehlanreizen beim Sparen und zu mehr Bürokratie und sei deshalb abzulehnen, argumentierte diese Seite.

Kompromissfähigkeit gefragt

Die Wirtschaftsdachverbände Economiesuisse und Arbeitgeberverband und Exponentinnen und Exponenten der bürgerlichen Parteien SVP, FDP und Mitte sowie der GLP bezeichneten die BVG-Reform dagegen als überfällig und setzten sich für ein Ja ein. Den Fokus legten sie auf die Verbesserungen für Personen mit tiefen Einkommen und Teilzeitbeschäftigten.

Das Parlament habe seine Lehren aus der Vergangenheit gezogen, sagte Mitte-Präsident Gerhard Pfister bei der Lancierung der Ja-Kampagne. Einerseits sei auf eine Vermischung der verschiedenen Säulen der Altersvorsorge verzichtet worden. Andererseits sei die Reform keine reine Sanierungsvorlage.

Im Mittelpunkt steht nun die Frage, wie eine im Parlament und beim Volk mehrheitsfähige Pensionskassenreform aussehen könnte. Bei der nun gescheiterten Reform standen sich am Anfang des Prozesses die Sozialpartner an einem Tisch gegenüber. Der von ihnen ausgehandelte Kompromiss war im Parlament jedoch chancenlos.

Biodiversitätsinitiative: Stadt und Land sind sich uneinig

Auch ist seit heute klar: Die Stimmenden in der Schweiz wünschen sich keine zusätzlichen Anstrengungen für mehr biologische Vielfalt. Stadt und Land sind sich allerdings uneins, ob es mehr Fördermassnahmen braucht. Mehrere Städte nahmen die Initiative teils deutlich an.

Insgesamt wurde die Biodiversitätsinitiative am Sonntag mit 63 Prozent der Stimmen abgelehnt. Nur zwei Kantone stimmten zu. Rund 1’579’300 Stimmende legten ein Nein ein und rund 926’200 ein Ja. Die Stimmbeteiligung war mit knapp 45 Prozent durchschnittlich.

Den grössten Nein-Anteil hatte mit knapp 77 Prozent der Kanton Schwyz. Auf Nein-Anteile von um die 75 Prozent kamen Appenzell Innerrhoden, Ob- und Nidwalden und Uri. Ein Ja gab es in zwei Kantonen: Basel-Stadt sagte mit fast 58 Prozent Ja und Genf mit rund 51 Prozent.

100 Prozent Nein in Gondo-Zwischbergen VS

Die Nein-Anteile variierten beträchtlich: Die Walliser Gemeinde Gondo-Zwischbergen zeigte der Initiative die kalte Schulter: Alle 31 Stimmenden des Dorfes lehnten sie ab. Nein-Anteile von mehr als 95 Prozent hatten auch die Urner Gemeinden Unterschächen und Spiringen.

Aus den Städten der Deutsch- und der Westschweiz erhielt die Initiative hingegen teils grosse Zustimmung: Bern sagte mit 68 Prozent Ja und Lausanne und Basel mit je rund 60 Prozent. Nein sagten allerdings die Städte im Kanton Tessin.

Das Nein ist insgesamt deutlicher als nach den Umfragen erwartet. Das Argument der Befürworterinnen und Befürworter, dass die Schweiz eine Biodiversitätskrise zu bewältigen habe, zog offensichtlich nicht. Und das, obwohl der Bund vor der Abstimmung eingeräumt hatte, dass die Biodiversität stärker gefördert werden müsse.

Nun bleibt es bei dem, was bereits getan wird. Dazu gehören Schutzinventare, finanzielle Förderung sowie die Strategie und den Aktionsplan Biodiversität, der die Strategie konkretisiert. Der Bund gibt heute rund 600 Millionen Franken im Jahr für die Biodiversität aus. Das meiste Geld geht an die Landwirtschaft.

Arbeit an zweitem Aktionsplan

Am zweiten Aktionsplan Biodiversität arbeitet der Bund zurzeit. Der Trägerverein der Initiative pocht auf einen wirksamen Aktionsplan. Bundesrat und Parlament müssten im Rahmen der geltenden Gesetze tun, was möglich sei. Der Bundesrat hätte einen indirekten Gegenvorschlag zur Initiative gewollt, unterlag aber im Parlament.

Die Initiative «Für die Zukunft unserer Natur und Landschaft (Biodiversitätsinitiative)» hätte Bund und Kantone zu mehr Schutz von biologischer Vielfalt, Landschaft und baukulturellem Erbe verpflichten wollen. Sie forderte für die Biodiversität mehr Flächen und mehr öffentliche Gelder, aber ohne Zahlengrössen.

Die Gegnerschaft argumentierte, dass die zusätzliche Förderung der biologischen Vielfalt die Lebensmittelproduktion stark einschränken würde. 30 Prozent der Landesfläche würden praktisch unantastbar. Diese Zahl sei als Zielgrösse der Initianten eindeutig, auch wenn die Initiative keine Zahlen enthalte.

Auch die Stromproduktion mit erneuerbaren Energien wäre nach Ansicht der Gegnerschaft beeinträchtigt worden, die Wald- und Holzwirtschaft und ebenso die Nutzung von Berggebieten für den Tourismus. Im Nein-Komitee aktiv waren SVP, FDP und Mitte-Partei und die Wirtschaft, darunter der Schweizer Bauernverband.

«Schützen, was wir brauchen»

Unter den Slogan «Schützen, was wir brauchen» stellte das Initiativkomitee seine Kampagne. Eine vielfältige Natur sei Voraussetzung für sauberes Wasser, fruchtbare Böden, die Bestäubung der Pflanzen und gesunde Lebensmittel, machte es geltend.

Hinter der Initiative standen rund siebzig nationale und mehr als 350 kantonale Organisationen aus Natur- und Umweltschutz, der Landwirtschaft, Fischerei, der Schweizer Pärke und des Landschaftsschutzes. SP, Grüne und GLP unterstützten die Initiative.

Albert Rösti: «Massnahmen für die Natur mit Umsicht und Augenmass»

Umweltminister Albert Rösti plädiert nach dem Nein zur Biodiversitätsinitiative für Massnahmen mit Umsicht und Augenmass zugunsten einer vielfältigen und intakten Natur. Die Bevölkerung sei nicht gegen den Schutz von Natur, Landschaft und Ortsbildern.

Die Stimmenden seien aber gegen die Einführung strengerer Regeln, die das Abwägen zwischen Schutz und Nützen erschwerten, sagte Rösti am Sonntag in Bern vor den Medien. Die strengeren Vorgaben hätten die Landwirtschaft, die Siedlungsentwicklung, den Ausbau der erneuerbaren Energien und den Tourismus behindert.

Die Natur und die Biodiversität zu schützen, sei auch dem Bundesrat ein Anliegen. Die rund 600 Millionen Franken, die der Bund dafür im Jahr einsetze, würden trotz der Sparprogramme weiter eingesetzt, versicherte Rösti. «Wir haben aber nicht plötzlich mehr Geld», gab er zu bedenken.

Dass noch zusätzliche Flächen für die Biodiversität eingesetzt werden, schloss der Umweltminister zwar nicht aus. Grundsätzlich stehe aber die bessere Qualität auf bereits reservierten Flächen im Fokus, gerade nach dem Nein zur Initiative, betonte er.

Der zweiten Aktionsplan zur Biodiversität werde dem Bundesrat bis Ende Jahr vorgelegt, kündigte Rösti an, so dass im nächsten Jahr die Umsetzung beginnen könne. Der Fokus werde auf Lebensräumen und der Entwicklung von Insekten liegen. Diese seien zentral für die Nahrungskette und Naturflächen.

Zusammen mit den Kantonen schütze der Bund wertvolle Bioptope und bedrohte Arten, versicherte Rösti. Das habe den Rückgang von Tier- und Pflanzenarten gebremst.

Der Abstimmungssonntag im Ticker zum Nachlesen:

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22.09.2024 16:04

Sonnenliebe

Initiativen haben es schwer in der Schweiz, sehr schade wegen dem Ständemehr bei der Biodiversitäts-Initiative.

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