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«Das einzige Mal, dass ich Angst hatte»: Magnin spricht über die Schande von Istanbul

16.11.2025 12:25
Yannick Fuhrer

Yannick Fuhrer

Vor genau 20 Jahren qualifizierte sich die Schweiz erstmals seit 1994 für eine Fussball-WM. Dieser Tag ist aber besser bekannt als die Schande von Istanbul. Der heutige FCB-Trainer Ludovic Magnin erinnert sich.

Wir schreiben den 16. November 2005. Die Schweiz verliert das Barrage-Rückspiel in der Türkei mit 2:4, das Hinspiel konnte die Schweiz aber mit 2:0 für sich entscheiden. Dank der damals noch geltenden Auswärtstorregel qualifiziert sich die Nati für die WM 2006 in Deutschland.

Nach dem Spiel war den Schweizern aber überhaupt nicht zum Feiern zumute: «Das war bisher das einzige Mal in meinem Leben als ich während eines Fussballspiels Angst hatte», erzählt FCB-Trainer Ludovic Magnin, der damals auch im Team dabei war, 20 Jahre später gegenüber Baseljetzt.

Er selbst hatte als Spieler wie auch als Trainer schon hunderte Fussballspiele erlebt, an einige konnte er sich laut eigenen Aussagen oftmals nach wenigen Wochen nicht mehr so richtig erinnern. Anders aber das Rückspiel mit der Schweiz in der Türkei: «Das Spiel ist nun 20 Jahre her. Aber diese ganze Reise nach Istanbul ist noch in mir drin als ob sie erst gestern gewesen wäre.»

Angefangen habe das Theater mit den Türken bereits nach dem Hinspiel, so Magnin: «Nach dem Spiel kamen viele türkische Spieler zu uns und haben uns gesagt, dass sie auf uns in Istanbul warten. Da haben wir das mit einem Lächeln hingenommen. Aber im Nachhinein hätten wir das lieber ernst genommen.»

Magnin selbst gab im Hinspiel die Vorlage zum Führungstreffer von Philippe Senderos. Danach holte er sich eine gelbe Karte ab, die ihn fürs Rückspiel sperrte. Für ihn war aber trotzdem klar, dass er unbedingt mit der Mannschaft zu diesem wichtigen Auswärtsspiel reisen will: «Da ich gesperrt war, musste ich meinen Trainer Giovanni Trapattoni (beim VfB Stuttgart, Anm. d. Red.) anrufen und ihn fragen, ob ich trotzdem mitreisen darf. Das hat er mir dann auch erlaubt. Aber da wusste ich noch nicht, dass ich das ein paar Tage später noch bitter bereuen werde». Und so ging es für die Nati mit Ludovic Magnin am 14. November 2005 nach Istanbul.

Hassbotschaften und Telefonterror

Kaum hatte die Nati türkischen Boden unter den Füssen, bekam sie von allen Seiten den Hass der Türken zu spüren. Bereits am Flughafen warteten türkische Fans mit Hasschören und geschriebenen Hassbotschaften. Aber auch die Mitarbeiter am Zoll liessen die Nati endlos lange warten, bis sie endlich passieren durfte.

Auf den Carfahrten in Istanbul wurde der Natibus mit Eiern, Steinen und sonstigen Gegenständen beworfen. Und auch im Hotel hörte es nicht auf: «Ich war im Zimmer mit Raphael Wicky. Als wir im Zimmer ankamen, begann der Telefonterror mit dem Hoteltelefon. Dieses mussten wir dann zuerst einmal ausstecken. In der ersten Nacht kontrollierten wir mehrmals, ob die Balkontüre wirklich gut geschlossen ist. Und wir überlegten uns auch, ob wir nicht noch ein Schrank vor die Türe stellen wollen.» Mittlerweile kann Magnin über diese Anekdote lachen – doch damals sei das überhaupt nicht lustig gewesen.

Das Spiel selbst wollte Magnin von der Tribüne aus verfolgen, doch so weit kam er gar nicht: «Als ich zur Tribüne hochgehen wollte, sind so viele Fans auf mich los. Dann hat mir der Sicherheitsdienst gesagt, dass ich nicht nach oben gehen kann. So habe ich das ganze Spiel in den Katakomben auf einem ganz kleinen Bildschirm zusammen mit Leuten der ARD verfolgt».

«Das einzige Mal, dass ich Angst hatte»: Magnin spricht über die Schande von Istanbul
Marco Streller schiesst das zwischenzeitliche 2:3. Bild: Keystone

Die Nati verlor 2:4, doch das reicht für die Qualifikation zur WM. Zum Feiern war zu diesem Zeitpunkt aber niemandem der Nati zumute. Alle sprinteten in Richtung Katakomben, viele mussten Schläge einstecken.

Ludovic Magnin war zu diesem Zeitpunkt mit Philipp Degen zusammen bei der ARD für ein Interview: «Alle Kameras durften nur gegen die Werbung filmen und nicht in die andere Richtung. Philipp Degen und ich haben aber gesehen, was auf der anderen Seite los war, und da war nur Tumult. Wir wussten eigentlich überhaupt nicht, was wir tun sollten», beschreibt er die turbulenten Minuten nach Abpfiff. Erleichtert sei er erst gewesen, als die Kabinentüre hinter ihm zuging: «Da war ich einfach nur froh – vor allem, dass die ganze Mannschaft dann auch wirklich da war.»

«Das einzige Mal, dass ich Angst hatte»: Magnin spricht über die Schande von Istanbul
Erst im Teamhotel konnte die Nati den WM-Einzug feiern. Bild: Keystone

Erst im Hotel kam das Team so langsam in Feierlaune und konnte endlich auf den Erfolg anstossen. Bis die ganze Geschichte aber langsam verdaut war, sei noch einige Zeit vergangen, erinnert sich Magnin: «Als ich mit Marco Streller in Stuttgart landete, sahen uns gleich ein paar türkische Fans. Und die hatten natürlich keine Freude an uns. Das Ganze hallte dann schon noch eine Weile nach.»

Rückblickend kann Magnin vieles dieser Reise mit Humor nehmen. Aber er sagt auch klar, dass das Team damals auf der ganzen Reise schon sehr alleine gelassen worden sei: «Wir hätten uns einfach mehr Unterstützung von verschiedenen Seiten gewünscht.»

Mit der Türkei habe er sich mittlerweile versöhnt und er sei auch wieder ins Land gereist: «Ich hatte schon lange gebraucht, aber ich war wieder da. Dazu kann ich auch sagen, dass ich in meiner Karriere immer wieder tolle türkische Mitspieler hatte. Und in dieser Geschichte hatten wir am Schluss ja das Happy End.»

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Kommentare

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16.11.2025 11:57

spalen

das hatte nichts mit ‚heissblüt‘ zu tun: das war schlicht ein aggressiv übersteigertes nationalgefühl garniert mit machoismus. der ausdruck ‚schande‘ trifft es wirklich gut.

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