«Der Suizid eines 13-Jährigen hat meine berufliche Laufbahn bestimmt»
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Jugendpolizist
Baselland

«Der Suizid eines 13-Jährigen hat meine berufliche Laufbahn bestimmt»

05.05.2023 12:01 - update 05.05.2023 16:34
Lea Meister

Lea Meister

Daniel Wenger war der erste Jugendpolizist im Baselbiet. Er baute den Jugenddienst auf und blickt heute auf knapp 40 Dienstjahre zurück. Seine Karriere begann mit einem schlimmen Erlebnis, das seinen ganzen Werdegang geprägt hat.

1986. Der junge Polizist Daniel Wenger wird an einen möglichen Tatort gerufen. Es ist Wengers erstes Dienstjahr. Vor Ort findet er einen 13-Jährigen in seinem Kinderzimmer vor. Er versucht, ihn zu reanimieren, obwohl er weiss, dass der Junge tot ist. Er hat sich das Leben genommen. «Es tut mir wahnsinnig leid, ich hätte dich gerne kennengelernt und dir bei deinen Problemen geholfen. Du zeigst mir gleich die Grenzen auf und die Tatsache, dass ich gar nicht in der Lage bin, als Polizist allen Menschen helfen zu können.»

Wenger spricht mit dem 13-jährigen Jungen und macht ihm ein Versprechen. Irgendwann werde er einen Job haben, in welchem er mit jungen Menschen arbeiten und ihnen helfen kann. Das Versprechen kann er halten. 14 Jahre später wird eine Person gesucht, die einen Jugenddienst aufbaut. Wenger meldet sich. Den 13-Jährigen vergisst er nie mehr. Ein Berufsleben lang steht er fortan in seinem Dienst. «Es kann nicht sein, dass junge Menschen mit ihren Problemen allein umgehen müssen. Da sind wir in der Verantwortung und müssen tun, was wir können.»

Fälle aus der Dunkelziffer

Um die Jahrtausendwende herum war die Jugendgewalt in den beiden Basel auf einem Rekordhoch. Jugendliche nahmen sich gegenseitig aus und bedrohten einander, so dass es kaum zu Anzeigen kam. Die Situation sorgte für genügend Druck, auch auf politischer Ebene. Der heute 61-jährige Wenger, der in Pratteln aufgewachsen ist und sich als «Längi-Bueb» bezeichnet, wurde am 1. Juli 2000 als erster Jugendpolizist eingestellt und durfte sich ein Team zusammenstellen. Um die personellen Ressourcen rechtfertigen zu können, musste er die Dringlichkeit nochmals unterstreichen. So holte er zahlreiche Fälle aus der Dunkelziffer hervor, zog von Schule zu Schule und bat um entsprechende Meldungen in Situationen mit Handlungsbedarf.

Den Schulleitungen musste er aufzeigen, dass Lehrpersonen nicht gleichzeitig auch noch Polizist:innen sein können und der Jugenddienst eine Entlastung sein soll. So kamen die Fälle langsam, aber sicher zusammen und der Jugenddienst wurde zum «hoch geschätzten Ansprechpartner» für Schulen, Eltern und sonstige angehörige jugendlicher Menschen mit Problemen. «Ein toter 13-jähriger Junge hat meine berufliche Laufbahn bestimmt. Sein Tod musste einen Sinn haben, auch wenn es ihm nichts mehr gebracht hat, so sollten zumindest künftig junge Menschen nicht mehr allein gelassen werden.»

Er gehört nach draussen

Heute arbeiten zehn Personen für den Jugenddienst, der der Kriminalpolizei angehört; acht Männer und zwei Frauen. Daniel Wenger ist stellvertretender Leiter des Dienstes. Den Chefposten wollte er nicht, denn er gehört nach draussen. Am liebsten arbeitet er im Bereich der Prävention. Fast täglich besucht er die Baselbieter Oberstufen-Klassen, um über Themen wie Gewalt, Sucht, Umgang mit den Sozialen Medien oder Mobbing zu reden. Was dabei ganz wichtig ist: Die Jugendlichen sollen mitreden, die Möglichkeit haben, auch vertraulichere Dinge anzusprechen. In den 90 Minuten, in welchen Wenger jeweils in einer Klasse ist, ist keine Lehrperson im Raum. In dieser Zeit sollen auch allfällige Berührungsängste abgebaut und Vertrauen geschaffen werden.

Der Bub von 1986 ist immer irgendwie dabei. Wenger erzählt auch an den Schulen regelmässig, wie ihn dieses Erlebnis geprägt hat. Manchmal gibt es Tränen. Heute hat jeder Schüler und jede Schülerin im Kanton einen direkten Ansprechpartner beim Jugenddienst der Polizei. Umso wichtiger ist es für Wenger, dass die Jugendlichen das Angebot auch kennen und wissen, dass sie ihre Lasten nicht allein tragen müssen.

«Der Suizid eines 13-Jährigen hat meine berufliche Laufbahn bestimmt»
Wenger ist sich bewusst, dass er die Welt nicht retten kann. Er kann aber tun, was ihm möglich ist, um für junge Menschen da zu sein. Bild: zvg

Und Lasten gibt es viele. Sexueller Missbrauch, häusliche Gewalt, suchtkranke Eltern, eigene Suchterkrankungen, Mobbing – ein Ende gibt es in Wengers Beruf nicht. Aufgeben dürfe man dennoch nie. «Ich weiss, dass ich nicht James Bond bin, ich kann die Welt nicht retten. Aber ich kann tun, was möglich ist und für Menschen da sein, wenn sie mich brauchen.» Die Jugendlichen, die Wenger betreut, sind meistens zwischen 12 und 18 Jahren alt. In den meisten Fällen brauche es jemanden, der «das System störe», in welchem viele junge Menschen unfreiwillig gefangen seien.

Erster Entzug in Kindesjahren

Der Jugendpolizist erzählt von einem erschreckend jungen Buben, der in seinem Alter schon so viel kiffte, dass er einen Entzug machen musste. Als Wenger bei ihm zuhause klingelte und beide Eltern kiffend die Tür öffneten, wusste er, dass der Junge nicht einfach wieder zurückkehren konnte, ohne erneut in einen Teufelskreis zu fallen. Eine Anzeige ist bei Drogenkonsum eigentlich unumgänglich und der Schlüssel dazu, dass hingeschaut wird. Die Jugendanwaltschaft entscheidet dann, was der beste Weg für ein betroffenes Kind oder eine jugendliche Person ist. Eine Möglichkeit ist dann – je nach Intensität des Drogenkonsums – beispielsweise die Aufnahme des Kindes in ein Heim.

Die Zusammenarbeit mit der Jugendanwaltschaft bezeichnet Wenger als «sehr gut», was wichtig sei, um beim Jugenddienst nicht das Gefühl zu haben, ins Leere zu arbeiten. Auch die Zusammenarbeit im Team des Jugenddienstes sei unheimlich wertvoll. «Ich bin stolz darauf, in diesem tollen Team arbeiten zu dürfen. Wir sind alle unterschiedlich, ziehen aber am gleichen Strang, wenn es um den Kern unserer Arbeit geht.»

«Wenn ein junger Mensch mir vertraut, versuche ich, wenn immer möglich, das nicht zu missbrauchen», sagt Wenger und erklärt im Detail, was er damit meint: «Bei sexuellem Missbrauch beispielsweise ist es unheimlich wichtig, dass die Anzeige im richtigen Moment gemacht wird.» Feingefühl ist eines der so wichtigen Attribute, die ein Jugendpolizist mitbringen muss.

Gesundheitliche Konsequenzen

Die Arbeit im Jugenddienst unterscheidet sich stark von der Arbeit als «normaler Polizist». «Wir tragen keine Uniform. Unser Ziel ist es nie, alles zu verbieten. Wir wollen wissen, was bei den jungen Leuten abgeht, wie es ihnen geht. Wir wollen ihnen zeigen, dass jemand da ist, wenn sie jemanden brauchen.» So kann es sein, dass Wenger in einem Jugendzentrum mit einem Jugendlichen am Töggelikasten steht und ihn am nächsten Tag wegen eines Raubdeliktes festnehmen muss. «Wichtig ist dabei, dass der Respekt beidseitig bestehen bleibt. Und das tut er.»

Der Beruf ging Wenger an die Substanz. Die Folge waren zwei Herzinfarkte und ein schweres Burnout im Jahr 2006. Dennoch überwiegt das Positive, das der Beruf zurückgibt. «Vielleicht auch, weil ich gewisse schlimme Dinge verdränge», ergänzt Wenger. Das müsse in seinem Beruf aber wohl teilweise auch einfach so sein. Dass er in den kommenden Monaten langsam etwas runterschraube, werde seine Gesundheit ihm danken. Und seine Frau. «Sie sagt mir immer wieder, dass ich an mein Herz denken soll. Wenn ich mich schonen könne, dann solle ich das auch tun.»

Leidenschaft für schöne Dinge

Seine Frau – seine erste und einzige grosse Schulliebe – wird sich keine Sorgen machen müssen, dass ihr Mann den Feierabend seines Berufslebens in Langeweile verbringen wird. Dafür hat Wenger gesorgt. Seit 35 Jahren sammelt er Kunst und Antiquitäten. Drei Lagerräume hat er gefüllt. Sobald er Zeit hat, möchte er einen Raum mit einem Musikautomaten, schönen Möbeln und Bildern einrichten. Auch eine Kaffeeecke soll Platz haben. Eine kleine Begegnungszone gefüllt mit schönen Sachen, die über die Jahre zusammengekommen sind.

Vielleicht werden hier auch ab und zu bekannte Gesichter vorbeischauen. So kam es schon oft vor, dass sich Menschen Jahre später persönlich für Wengers Einsatz bedankten. Sie kommen vorbei, stellen Wenger ihre Familien vor, erzählen, dass sie heute einen Job und ein Haus haben und ein zufriedenes Leben führen. Ein junger Mann fuhr gar einmal mit dem Traktor den ganzen Weg von seinem Heimatdorf zum Polizeiposten in Liestal, nur um Wenger zu sagen, dass er die Traktorprüfung bestanden habe und jetzt als Landwirt arbeite.

Umfeld als Energiespeicher

Die meiste Zeit wird er aber mit seiner Frau, seiner Tochter, seinem Sohn und den beiden Enkeln verbringen. Denn Wenger war in den ganzen intensiven Jahren nicht nur «Ersatz-Papi» für viele junge, haltlose Menschen, die sich in Notfällen jederzeit bei ihm persönlich melden können, er konnte sich zuhause auch immer wieder die nötige Energie zurückholen, um seinen Job so machen zu können, wie er es für richtig hielt. «Ich habe wahnsinniges Glück, eine so tolle Familie zu haben.»

Wenger hält sich am Guten fest, das ihm sein Job zurückgibt. Ob im Büro, im Austausch mit Jugendlichen oder zuhause, der 61-Jährige ist immer die gleiche Person. «Es gibt nicht den Polizisten Daniel Wenger. Ich bin einfach der, der ich bin. Jungen Menschen, die nicht so viel Glück hatten, will ich geben, was ich kann.»

Jugendliche im Baselbiet haben heute Ansprechpersonen, denen es am Herzen liegt, dass sie mit ihren Problemen nicht allein gelassen werden. Bald wird Daniel Wenger das, was er sein ganzes Berufsleben lang aufgebaut hat, hinter sich lassen. «Ich will noch ein bisschen leben», sagt er und freut sich innerlich schon auf die kleine Begegnungszone mit seinen Sammlerstücken.

Sein Versprechen an den Jungen aus dem Jahr 1986 hat er gehalten.

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Kommentare

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05.05.2023 14:56

duundich

danke dani….👍🏻 du bist ein super typ und ein grossartiger berufskollege ! pass auf dich auf 😊 bubu

1 0
05.05.2023 10:11

jetzt_aber

Eindrücklicher Artikel! Vielen Dank!

6 0
05.05.2023 16:08

Lea Meister

Vielen Dank!

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