Türken haben in wegweisender Wahl über ihre Zukunft abgestimmt
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Türken haben in wegweisender Wahl über ihre Zukunft abgestimmt

14.05.2023 11:15 - update 14.05.2023 16:35

Baseljetzt

In einer richtungsweisenden Wahl haben die Bürgerinnen und Bürger der Türkei über den Präsidenten und ein neues Parlament abgestimmt. Die Wahllokale schlossen am Sonntag um 17 Uhr.

Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan muss nach 20 Jahren an der Macht um seine Wiederwahl bangen. Umfragen hatten auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen ihm und seinem Herausforderer, dem Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu, hingedeutet. Belastbare Ergebnisse waren für den späten Sonntagabend angekündigt.

Ohne Probleme

Die Wahl lief nach einer ersten Einschätzung der zuständigen Behörde ohne Probleme ab. Oppositionspolitiker meldeten kleinere Zwischenfälle aus verschiedene Provinzen. Rund 64 Millionen Menschen im In- und Ausland waren zur Stimmabgabe aufgerufen. In Deutschland waren rund 1,5 Millionen Menschen mit türkischem Pass stimmberechtigt.

«Wir haben die Demokratie sehr vermisst», sagte Oppositionsführer Kilicdaroglu am Mittag bei der Stimmabgabe. Der «Frühling» werde hoffentlich bald kommen, so der 74-Jährige unter Bezug auf einen möglichen Sieg bei der Wahl. Erdogan, der in Istanbul seine Stimme abgab, reiste am Nachmittag in die Hauptstadt Ankara.

Seit der Einführung eines Präsidialsystems vor fünf Jahren hat der 69 Jahre alte Erdogan so viel Macht wie noch nie. Kritiker befürchten, dass das Land mit rund 85 Millionen Einwohnern bei einer Wiederwahl Erdogans vollends in die Autokratie abgleiten könnte. Auch international wird die Abstimmung in dem Nato-Land aufmerksam beobachtet.

Grosses Interesse

Kilicdaroglu (74) ist Chef der sozialdemokratischen CHP und kandidierte für ein Bündnis aus sechs Parteien. Er verspricht eine demokratischere Türkei. Der dritte Kandidat, Sinan Ogan, hat keine Aussicht auf einen Sieg. Ein weiterer Herausforderer, Muharrem Ince, hatte sich aus dem Rennen zurückgezogen. Sein Name stand aber noch auf dem Wahlzettel und für ihn abgegebene Stimmen sollten mit ausgezählt werden.

Gewinnt keiner der Kandidaten in der ersten Runde die absolute Mehrheit, kommt es in zwei Wochen – am 28. Mai – zu einer Stichwahl des Präsidenten. Im Parlament hielt Erdogans islamisch-konservative AKP bislang eine Mehrheit im Bündnis mit der ultranationalistischen MHP.

Das Interesse an der Wahl war bereits am Morgen gross. Im konservativen Istanbuler Bezirk Üsküdar bildeten sich lange Schlangen, wie ein dpa-Reporter berichtete. Eine Frau mittleren Alters, die sich als Sevinc vorstellte, sagte, die Wahl sei das einzige Feld, auf dem das Volk seine Freiheit nutzen könne. Sie hoffe auf eine hohe Beteiligung. Der 57-jährige Fikret Koc sagte, er unterstütze den «Anführer» Erdogan. Er habe die Türkei stark gemacht und vorangebracht.

In den von Erdbeben betroffenen Provinzen wurde in Containern oder noch intakten Schulen abgestimmt. Nach den Beben in der Südosttürkei am 6. Februar mit Zehntausenden Toten war Kritik am Krisenmanagement der Regierung laut geworden.

Der Wahlkampf war angespannt und galt als unfair, vor allem wegen der medialen Übermacht der Regierung. Bestimmendes Thema war die schlechte wirtschaftliche Lage mit einer massiven Inflation. Erdogan versprach unter anderem eine Anhebung von Beamtengehältern und weitere Investitionen in die Rüstungsindustrie. Er führte eine aggressive Kampagne und beschimpfte die Opposition als «Terroristen». Ein beliebter Oppositionspolitiker war nur eine Woche vor der Wahl mit Steinen beworfen worden. Kilicdaroglu trug am Freitag bei einem Auftritt in der Erdogan-Hochburg Samsun eine kugelsichere Weste.

Einschränkung von Grundrechten

Kilicdaroglu gilt als besonnener Politiker. Er stammt aus der osttürkischen Provinz Tunceli und gehört der religiösen Minderheit der Aleviten an. Der Oppositionsführer will die Unabhängigkeit von Institutionen wie der Zentralbank wiederherstellen und die hohe Inflation in den Griff bekommen. Er steht für eine Wiederannäherung an Deutschland und die EU, aber auch für eine schärfere Migrationspolitik.

Mit der EU und in der Nato sind die Beziehungen eisig, seitdem Erdogan den Putschversuch im Jahr 2016 als Vorwand für eine Einschränkung von Grundrechten nutzte und Oppositionelle und Journalisten inhaftieren liess. Die EU legte Beitrittsverhandlungen und Gespräche über eine Erweiterung der bestehenden Zollunion auf Eis. Mit Kilicdaroglu kann das alles nur besser werden, lautet deswegen in Brüssel die vorherrschende Meinung.

In der Ampel-Koalition gibt man sich auch hinter vorgehaltener Hand zurückhaltend. Selbst wenn das Bündnis von Kilicdaroglu gewinne, bleibe abzuwarten, wie sich die unterschiedlichen Partner inhaltlich zusammenfinden würden, ist zu hören. Dies gelte auch für die grossen Themen wie die Haltung der Türkei zu Russland, die Durchsetzung von Sanktionen oder den Umgang mit den Flüchtlingen.

Erdogans islamisch-konservative AKP kam 2002 an die Macht. Ein Jahr später wurde Erdogan Ministerpräsident, seit 2014 ist er Staatspräsident. In seinen ersten Regierungsjahren galt er als Reformer und sorgte für einen wirtschaftlichen Aufschwung. Viele seiner eigenen Reformen hat Erdogan inzwischen zurückgedreht. Die regierungskritischen Gezi-Proteste, die sich in zwei Wochen zum zehnten Mal jähren, liess Erdogan niederschlagen. (sda/maf/jwe)

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