Ein Basler zur Situation in Paris: «Mal herrscht Nachkriegsstimmung, mal ist alles ruhig»
©Bilder: Keystone, Dario Meister / Montage: Baseljetzt
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Ein Basler zur Situation in Paris: «Mal herrscht Nachkriegsstimmung, mal ist alles ruhig»

28.03.2023 04:42 - update 28.03.2023 05:38

Natasha Zekry

Amtsgebäude brennen und die Städte versinken in Müll. Millionen Bürgerinnen und Bürger protestieren in Frankreich gegen die neue Rentenreform von Emmanuel Macron. Mittendrin: der Basler Dario Meister.

Die Regierung von Emmanuel Macron hat das Rentenalter von 62 auf 64 Jahre angehoben. Dies ohne Zustimmung des Parlaments. Laut Gewerkschaften gingen in den vergangenen Wochen rund dreieinhalb Millionen Menschen auf die Strasse, um gegen die Rentenreform zu demonstrieren.

Der Basler Dario Meister lebt im Arrondissement vier und ist mittendrin. Im Baseljetzt-Interview schildert er seine Eindrücke.

Baseljetzt: Dario, du studierst und lebst in Paris. Wie ist die Lage?

Dario: Seit die neue Rentenreform mit einer speziellen Klausel, welche sich über die Demokratie stellt, durchgedrückt wurde, ist die Hölle los. Es ist nicht ganz so schlimm, wie man es sich vielleicht vorstellt, weil es sich auch wieder schnell beruhigt. Aber an den Tagen, an denen die Situation eskalierte, gab es heftige Demonstrationen und teilweise auch zerstörerische Aufstände.

Was hat sich vor deiner Haustür abgespielt?

Am vergangenen Donnerstag wurde eine Demonstration angekündigt. Am Nachmittag schmissen junge, vermummte Jungs in meiner Strasse Abfälle und Glasbehälter herum. Später kamen ähnliche Gestalten dazu, welche rumsprayten und Abfälle anzündeten. So ging es auch mit der generellen Zerstörung los. Erst später kamen «normale» Demonstrierende dazu. Also erst nach der Welle der Zerstörung.

Wer sind die Demonstrierenden? Sind das eher jüngere oder ältere Personen? Frauen oder Männer?

Querbeet. Es ist eigentlich noch spannend, wie das in Frankreich läuft. Jegliche Altersgruppen, jegliche Geschlechter: Alle gehen gemeinsam und zu Tausenden auf die Strasse, um zu demonstrieren. Es sind auch viele junge Menschen dabei.

Wie verhält sich die Polizei?

Ich kann nur die Sicht aus meinem Fenster beurteilen, weil ich zuhause geblieben bin. Ich hatte nicht wirklich Lust darauf, das Haus zu verlassen. Als es in meiner Strasse eskalierte, kam ein Einsatzteam mit Schildern und allem, um gegen die Gewalt vorzugehen. Ich habe gehört, dass sie teilweise ziemlich aggressiv vorgehen und beispielsweise Tränengas einsetzen. Eine Kollegin hat mir erzählt, dass sie sogar in die Metro Tränengas geschmissen hätten und sie Mühe hatte, zu atmen. Ich glaube, dass sie teilweise schon heftig vorgehen.

Verlaufen Demonstrationen in Frankreich aggressiver als in der Schweiz?

Ich denke schon, ja. Alleine schon wegen der Menschenmassen. Das ist unvergleichbar und macht einen riesigen Unterschied. Und nochmal, das ist nur meine Einschätzung, aber ich habe schon das Gefühl, dass es einen Unterschied zwischen den Demonstrierenden gibt und den Menschen, welche einfach generell aggressiv sind und eine Zerstörungswut haben. Das ist schon krass und diese Menschen machen schon einen grossen Teil aus.

Aktuell hat sich die Lage wieder etwas entspannt, oder?

Genau. Es ist beeindruckend, wie schnell sich alles wieder beruhigt und regeneriert. An einem Tag sah meine Strasse komplett zerstört aus, aber relativ schnell war das Chaos dann wieder weggeräumt. Von wem, weiss ich nicht genau, weil die Müllabfuhr immer wieder streikt. Jetzt ist es gerade relativ okay, aber anscheinend gibt es am Dienstag wieder Demonstrationen. Seit Wochen gibt es die beinahe jeden Dienstag, und ich weiss nicht, was das bedeutet. Gibt es wieder Demonstrationen oder eskaliert die Lage wieder komplett?

Wie verhält sich Emmanuel Macron? Sucht er den Dialog?

Er hat gerade erst eine Rede am Fernsehen gehalten. Diese habe ich aber nicht verfolgt. Aber was ich gehört habe, hat er sich wohl eher ungeschickt verhalten. Der Hass gegen Macron hat sich in Paris nochmals ziemlich zugespitzt, so wie ich das mitbekommen habe.

Du bist mitten drin. Wie sicher fühlst du dich in Paris?

Ich hatte am vergangenen Donnerstag das Glück, dass ich das Haus nicht verlassen musste. Ich hätte zwar ein Vorstellungsgespräch gehabt, musste der Frau dann aber mitteilen, dass ich das Haus sehr schlecht verlassen kann und ausserdem haben die Metros gestreikt. Ich hatte schon etwas Schiss, aber mehr von der Stimmung her und nicht aus einer direkten Bedrohung raus. Wenn du in deiner Wohnung bist und draussen wird alles angezündet, die Luft vor deinem Fenster ist verraucht und die Luft in der Wohnung wird unangenehm, dann kommt schon ein Angstgefühl auf.

Würdest du deswegen sogar umziehen?

Soweit würde ich nicht gehen. Es ist grösstenteils von Vorteil, im Zentrum zu leben, aber in solchen Momenten wünscht man sich schon schnell einmal, irgendwo auf dem Hügel bei Sacré Coeur zu leben, wo man fernab vom Tumult lebt. Viele Freunde von mir sagen: «Ich habe eigentlich gar nichts mitbekommen» und bei mir geht die Welt unter (lacht). Aber nein, ich stehe dazu und bleibe hier.

Was fordern die Demonstrierenden? Ist dir etwas speziell aufgefallen? Oder geht es Einigen um die pure Zerstörung?

Nein, in erster Linie geht es wirklich nicht um die pure Zerstörung. Es geht hauptsächlich wirklich um die Erhöhung des Rentenalters. Viele junge Menschen haben Schilder mit «une retraite pour ma maman» (Pensionierung für meine Mutter) und setzen sich für ihre Eltern ein, dass diese früher in Rente gehen können. Das ist schon die Hauptforderung. Mir ist wichtig zu ergänzen, dass sich die Situation wirklich schnell wieder erholt und Paris nicht täglich komplett im Abgrund versinkt. Aber klar, es gibt heftige und zentrierte Momente. Das finde ich schon spannend, wie tagesabhängig das ist. An einem Tag herrscht Nachkriegsstimmung, am anderen ist alles ruhig.

Wie verhält sich die Bevölkerung an ruhigen Tagen? Bleibt sie Zuhause oder ist dann schnell alles wieder beim Alten?

Was ich mitbekomme, ist typisch Paris: Alles ist normal, alles ist easy (lacht). Man scheint sich alles gewohnt zu sein und darum geht es normal weiter. Das ist eigentlich das Krasse daran. Seit Wochen ist Ausnahmezustand, aber das Leben geht weiter.

Transparenzhinweis: Dario Meister ist der Bruder von Lea Meister, Leiterin Online bei Baseljetzt.

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