Erich Gysling zur Lage in Syrien: «Nächste Wochen abwarten, um klarer zu sehen, was da passiert»
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Erich Gysling zur Lage in Syrien: «Nächste Wochen abwarten, um klarer zu sehen, was da passiert»

09.12.2024 18:00 - update 09.12.2024 18:04
Jennifer Weber

Jennifer Weber

Die Rebellen in Syrien haben am Sonntag die Kontrolle über die Hauptstadt Damaskus übernommen und das Assad-Regime gestürzt. Baseljetzt hat mit dem Nahost-Experten Erich Gysling gesprochen.

Baseljetzt: Erich Gysling, wie ist Ihre erste Einschätzung zur Lage in Syrien?

Erich Gysling: Ich würde schlicht und einfach sagen: skeptisch. Es ist eine islamistische Gruppe und ihr Anführer Al-Julani, auch Al-Golani genannt, sagt zwar, er sei gemässigt und er würde alle anderen Kräfte miteinbeziehen und quasi den Staat von unten her neu aufbauen. Kann man dem glauben oder nicht? Wissen Sie, wenn Islamisten so etwas sagen, habe ich ein tiefes Misstrauen. Weil sie können das zwar schon sagen, aber übergeordnet war bisher immer ihr letztes Ziel, den Staat in einen islamischen Staat umzuwandeln. Wenn sie das machen wollen, sieht es für die gesamte Bevölkerung von Syrien natürlich nicht so rosig aus.

Die Rebellen sind eine durchmischte Gruppe, das ist keine homogene Gesellschaft?

Nein, jetzt ist es eine Koalition. Die stammt aus dem Kern aus der Haiat Tahrir al-Scham (HTS), was übersetzt heisst: die Bewegung zur Befreiung der Levante. Die hat sich mit ein paar anderen Splittergruppen zusammengetan. Das Spektrum der islamistischen Parteien ist sehr breit in Syrien. Das geht weit über diese Koalition hinaus. Sie geht bis zu den Anhängern des Islamischen Staats (IS). Den gibt es nämlich auch immer noch. In der vergangenen Nacht haben die Amerikaner Stellungen des Islamischen Staats noch bombardiert – ob es echte Stellungen waren, wissen wir aber nicht. Und die Rebellen, die von Süden her Richtung Damaskus vorgedrungen sind, sind wieder eine andere Gruppe. Das sind lokale Milizen. Ihre Ausrichtung kennt man nicht ganz so genau. Ich habe den Verdacht, dass da noch sehr viel offen ist und dass da noch sehr viele Koalitionen gebildet werden müssen – oder sie zerfallen auch wieder. Es ist leider wohl eher so, dass sie wieder zerfallen werden. Denn die Konkurrenz innerhalb des islamistischen Spektrums ist riesengross. Das war sie auch schon immer.

Das bedeutet, bis sich die demokratischen Strukturen bilden können, könnte es auch nochmals zu neuen Konflikten kommen?

Das würde ich so nicht unbedingt sagen. Ich würde meinen, dass diejenigen, die irgendwo an der Schaltstelle der Macht sind, sich dazu bekennen müssten, dass sie wirklich eine Demokratie wollen. Wie führen sie diese Demokratie ein? Sie müssten zunächst Wahlen durchführen. Das hat es in Syrien seit vielen Jahrzehnten nicht mehr gegeben. Auch lange vor Baschar al-Assads Vater, der 1970 an die Macht kam, gab es das nicht. Es gab viele verschiedene Gruppen, die gegeneinander Putsche durchführten. Eine Tradition der Demokratie gibt es eigentlich nicht. Aber wenn Sie durch Syrien reisen, haben Sie das Gefühl, alle seien vernünftig und progressiv.

Was sind jetzt die nächsten Schritte?

Al-Golani sagt, er würde mit dem Premierminister, der interessanterweise geblieben ist, zusammenarbeiten, um eine neue Regierung zu bilden und den Übergang garantieren zu können. Ob das gelingt oder nicht? Keine Ahnung! Wir wissen es schlicht und einfach nicht. Man muss die nächsten Wochen abwarten, um klarer zu sehen, was da passiert.

Wie könnte es für syrische Geflüchtete in der Schweiz weitergehen?

Es sind etwa 25’000. Es sind relativ viele. Was die Rückkehr angeht, muss man immer Folgendes bedenken: Der Westen hat Sanktionen gegen Syrien erlassen. Die Schweiz ist diesen beigetreten. Die strengsten Sanktionen sind vom US-amerikanischen Präsidenten Trump zum Schluss seiner ersten Amtszeit erlassen worden. Sie bekamen den Übernamen «the Caesar Sanctions». Das sind derart rigorose Sanktionen, dass es niemand, auch kein ausländisches Unternehmen, keine Person, wagen darf, in Syrien zu investieren. Mit diesen Sanktionen hat man förmlich die Möglichkeiten für den Wiederaufbau Syriens blockiert. Und solange das nicht passiert, kann man wenig Leute zurückschicken. Natürlich haben Sie andere humanitäre Organisationen, wie die Unicef beispielsweise, die Hilfe ins Land bringen. Hier haben die Sanktionen nicht gegriffen, in Bezug auf Nahrungsmittel und zum Teil auch auf Medikamente. In Bezug auf alles andere sind die rigorosesten Sanktionen einfach erlassen worden, und sie sind nach wie vor in Kraft. Solange diese nicht aufgehoben werden, glaube ich nicht, dass in grosser Zahl die Leute Lust haben, zurückzukehren. Einige wenige vielleicht schon, die wissen, dass ihre Häuser noch vorhanden sind. Aber ein grosser Teil wird, glaube ich, im Ausland bleiben. In der Türkei sind es 3,4 Millionen. Die meisten Flüchtlinge sind ja nicht in Europa. Sie sind in den umliegenden Ländern. Sie werden wahrscheinlich noch sehr zögerlich sein, was die Rückreise betrifft.

Wie reagiert Israel auf den plötzlichen Machtwechseln in Syrien?

Netanjahu sagte: «Wir lassen uns alle Optionen offen und wir sind auf alles vorbereitet». Das heisst wohl konkret, so wie sich Netanjahu in den letzten Monaten verhalten hat, wenn er sieht, dass da eine grosse Unsicherheit in Syrien herrscht, die Israel allenfalls auch bedrohen könnte, sei es durch Flüchtlingsströme oder durch Aktionen von radikalen Gruppierungen. Dann wird Israel militärisch eingreifen. Sie halten sich das als Option offen. Mehr wissen wir zurzeit nicht. Israel wartet ab und schaut, was passiert.

Mitarbeit: Leonie Fricker

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15.12.2024 12:08

mil1977

Wer glaubt, das Regime von B. al-Assad wäre innerhalb von wenigen Tagen zusammen gebrochen, muss bedenken, dass das Regime seit mehr als fünf Jahren nicht mehr in der Lage war die Versorgung der Bevölkerung sicher zu stellen. Die Isolation, die Embargos und die weltweite Inflation taten ihr Werk. Der Ukrainekrieg Russlands und der Kampf des Iran gegen Israel beschleunigten den Verfall wegen mangelnder Unterstützung durch diese beiden Länder.
Die militärische Komponente war wie in Afghanistan nicht der Grund.

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