Sehbehinderte
Schweiz

«Man nimmt mir wieder ein bisschen Selbständigkeit weg»

30.11.2023 19:12 - update 22.12.2023 13:38
Jessica Schön

Jessica Schön

Im Januar wird die Ausweiskarte für Blinde und Sehbehinderte abgeschafft. Damit wird der ohnehin aufwendige Ausflug in die Stadt für sehbehinderte ÖV-Kunden zu einer noch grösseren Herausforderung.

Margrit Erny-Sulzer kann trotz ihrer fortgeschrittenen Makuladegeneration, einer meist altersbedingten Sehbehinderung, die eine oder andere Besorgung alleine erledigen. Zwar erfordern ihre Stadtausflüge einiges an Vorbereitung – dank der Ausweiskarte für Blinde und Sehbehinderte kann sie das Problem des Ticketkaufs für Bus und Tram aber umgehen.

Durch den Beschluss des Branchenverbandes Alliance SwissPass, die Ausweiskarte ersatzlos abzuschaffen, ändert sich das im kommenden Jahr: «Jetzt konnte ich kleine Sachen alleine machen und ich war stolz, dass ich das noch schaffte. Das wird jetzt es schwieriger», so Erny.

«Kann die App nicht benutzen, weil ich sie nicht sehe»

Die Ausweiskarte wurde vor 50 Jahren eingeführt, nachdem der Ticketverkauf in den Fahrzeugen durch Automaten ersetzt wurde. Für sehbehinderte Menschen wie Erny sind diese Ticketautomaten nämlich nicht barrierefrei. Mittlerweile, so Reto Hügli von Alliance SwissPass, stünden Menschen mit einer Behinderung aber andere Mittel zur Verfügung: «Es gibt die Möglichkeit, über den Webshop, der für Blinde und Sehbehinderte optimiert ist, Tickets zu kaufen. Ferner kann man auch Smartphone-Apps nutzen oder beim Callcenter Handicap ein SBB Ticket besorgen.»

Gerade für ältere Personen mit einer Sehbehinderung sind diese Ausweichmöglichkeiten aber ein schwacher Trost: «Ich kann weder an die App noch ans Telefon, weil ich das ja alles nicht sehe. Und wenn ich irgendwohin unterwegs bin und abends zurück will – wie soll ich denn eine Karte bestellen?»

Ein Schritt in die falsche Richtung

Auch für Martin Abele vom Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverband ist die Abschaffung der Karte mit Blick auf die Barrierefreiheit im öffentlichen Verkehr ein Schritt in die falsche Richtung. Zwar würde er es verstehen, wenn die Karte nicht mehr gratis wäre. Allerdings bräuchte es weiterhin ein vergünstigtes Angebot: «Viele Menschen mit einer Behinderung haben nicht so viel Geld, gerade Bezüger:innen von Ergänzungsleistungen.

Tatsächlich begründet Alliance SwissPass die Streichung des Angebotes nicht mit den Kosten, sondern mit dem Behindertengleichstellungsgesetz. Durch die Karte würden spezifisch blinde Menschen und solche mit einer Sehbehinderung profitieren. Demgegenüber gäbe es das Begleitabo, das allem Menschen mit einer Behinderung zustehe: «Diese ist gratis, mithilfe dieser Karte kann man eine Begleitperson mitnehmen.»

Und doch. Die Abschaffung der Karte gefährdet die Inklusion im öffentlichen Verkehr, so Erny: «Man nimmt mir wieder ein wenig Selbständigkeit weg.» Weil der Weg in die Stadt ohnehin so viele Handriffe benötige fühle sie sich nun erst recht unsicher.

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Kommentare

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06.12.2023 22:27

BehiG

Die VöV-Ausweiskarte war eine Ersatzlösung für Leute, die Billettautomaten gar nicht bedienen können; andere Behinderungsgruppen können in der Regel die Geräte bedienen. Die Karte war also keine Diskriminierung. Ihre Abschaffung bildet jedoch eine gesetzwidrige Diskriminierung, weil Menschen mit Sehbeeinträchtigungen künftig verpflichtet sind, ein Mobiltelefon mit geladenem Akku stets dabei zu haben, wenn sie den ÖV nutzen, weil die restlichen Ersatzlösungen der Branche nur mit einem Mobiltelefon zugänglich sind. Wo steht eine solche Telefonmitnahmepflicht im Schweizer Transportvertragsrecht? Gemäss Bundesrat, BAV und ÖV-Branche sei dies zumutbar, aber es ist eine untragbare Zumutung für die betroffenen Menschen, vor allem, weil diese Ersatzlösungen nicht behinderungsartgerecht sind und sehr schlecht überdenkt wurden.

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02.12.2023 16:35

figtree5

da waren wieder einmal Sesselfurzer
am Werk

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