
Mehrheit in Bevölkerungsumfrage sieht zu viel Beachtung für Queere
Baseljetzt
Queere Personen erhalten laut 60 Prozent der Teilnehmenden einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage des Forschungsinstituts gfs.bern in der Schweiz zu viel Beachtung im Verhältnis zum Rest der Bevölkerung.
Eine gewisse Ambivalenz zeigte sich auch, wenn es darum ging, mehr über die Erfahrungen und Herausforderungen von LGBTIQ+-Personen zu lernen. Zwar gaben 33 Prozent an, sehr häufig dafür offen zu sein, Neues zu lernen. Bei 35 Prozent wiederum war das aber nicht der Fall. Frauen sind der Umfrage zufolge im Vergleich zu Männern häufiger offen dafür, mehr über die Erfahrungen und Herausforderungen von LGBTIQ+-Personen zu lernen.
Dasselbe gilt für Menschen, die sich eher linken Parteien zugehörig fühlen, sowie für jüngere Personen. Ausserdem gilt: Wer persönlichen Kontakt zu LGBTIQ+-Personen hat oder auch selber schon Erfahrungen mit Diskriminierung gemacht hat, ist offener als andere Menschen.
Pronomen werden anerkannt
Eine grössere Bereitschaft zeigt sich bei der Anerkennung der Geschlechtsidentität und der gewählten Pronomen. Eine Mehrheit von 53 Prozent der Befragten gab laut gfs.bern an, dies häufig oder sehr häufig zu tun. Diesen Personen stehen jene 23 Prozent gegenüber, die angaben, die Geschlechtsidentität der Mitmenschen selten oder nie anzuerkennen.
Ähnliche soziodemografische Muster wie bei der Offenheit für LGBTIQ+-Themen fand das Forschungsinstitut auch in diesem Zusammenhang: Jüngere, Frauen und Menschen mit Kontakten zu LGBTIQ+-Personen gaben häufiger an, die Geschlechtsidentität oder die Pronomen anzuerkennen.
Die Befragten gaben mit 41 und 39 Prozent weiter deutlich häufiger an, gegenüber schwulen und lesbischen Personen eine sehr positive Haltung zu haben, als sie dies bei trans oder non-binären Personen tun. Dort gaben dies 15 beziehungsweise 18 Prozent an.
Keine Priorität bei Transpersonen
Eine Mehrheit von 60 beziehungsweise 53 Prozent befürwortet denn auch die rechtliche Gleichstellung schwuler oder lesbischer Menschen. Eine rechtliche Gleichstellung von trans- oder non-binären Menschen hat dagegen mit einem Anteil von 37 beziehungsweise 35 Prozent für weniger Personen Priorität.
Zwar sprach sich nur eine Minderheit der Befragten aktiv gegen die Akzeptanz der Lebensweise und gegen die Rechte von LGBTIQ+-Menschen aus. Es habe in den Auswertungen aber auch keine Hinweise für eine grosse Offenheit und Bereitschaft, auf diese Gruppen zuzugehen, Neues zu lernen oder sich für ihre Rechte aktiv einzusetzen, gegeben, schreibt das Forschungsinstitut.
Die Auswertungen liessen sich vielleicht am besten im Sinne einer zurückhaltenden Neutralität beschreiben, heisst es in der Studie. Das zeige sich auch, wenn es um konkrete Reaktionen auf verschiedene Lebensentwürfe und Identitäten gehe.
Hälfte der Befragten für Gesetzesanpassungen
In der Umfrage sehen sich 99 Prozent der Befragten als Mann/Junge oder Frau/Mädchen. Insgesamt wurden Anfang Oktober 1005 Einwohnerinnen und Einwohner der Schweiz ab dem 16. Lebensjahr befragt.
Rund ein Drittel befürwortete denn auch die Einführung eines dritten, neutralen Geschlechtseintrages. Ungefähr jede fünfte Person empfand dagegen die komplette Streichung des Geschlechtseintrages auf allen offiziellen Dokumenten als beste Lösung.
Damit ist laut gfs.bern genau die Hälfte der Befragten offen für eine Anpassung der aktuell geltenden Regelung und die Anerkennung der Geschlechtervielfalt vor dem Gesetz. Die andere Hälfte fand hingegen, dass die heute vorhandenen Kategorien auch in Zukunft weiter bestehen sollten.
Die Bereitschaft, etwas am Status quo zu ändern, stehe in erster Linie im Zusammenhang mit der Parteizugehörigkeit einer Person, hiess es zudem. Je weiter rechts jemand steht, desto geringer ist die Offenheit dafür, das geltende Recht anzupassen. Während Frauen auch hier deutlich offener sind, gibt es beim Alter der Befragten keine signifikanten Unterschiede.
Hartnäckige Stereotypen
Klassische Stereotypen oder kritische Aussagen über LGBTIQ+-Personen werden von einer Mehrheit der Befragten im Grossen und Ganzen indes durchbrochen. Das gilt laut gfs.bern vor allem in Bezug auf Stereotypen über die sexuelle Orientierung.
Sobald es um die Geschlechtsidentität oder eine Variation der Geschlechtsmerkmale geht, steigt die Zustimmung zu Stereotypen jedoch klar an – und die Haltung der Gesamtbevölkerung wird kritischer. So ist beispielsweise mit 47 Prozent fast die Hälfte der Befragten der Meinung, Transpersonen und non-binäre Personen würden in erster Linie einem Trend folgen und zu viel Aufmerksamkeit wollen.
Auch der Aussage, dass intergeschlechtliche Personen sonderbar und schwierig zu verstehen seien, pflichten 28 Prozent bei. Fast jede fünfte Person ist der Ansicht, zwei schwule Männer können keine guten Eltern sein.
Auffallend ist laut der Studie zudem, dass bei den spontanen Eingebungen zu den Begriffen trans, intergeschlechtlich und non-binär vergleichsweise mehr negative Nennungen erfolgen. Dies vor allem im Zusammenhang mit gängigen Stereotypen und Vorurteilen (schrill, bunt, komisch) oder ideologisch aufgeladenen Themen (woke, Gender-Wahnsinn, Modeerscheinung).
Gewaltandrohungen und Übergriffe
Neben der Bevölkerungsumfrage führte das Forschungsinstitut auch eine offene Community-Befragung durch – mit 1007 Personen ab dem 15. Lebensjahr. Dort gaben 21 Prozent der Befragten an, nicht binär, genderqueer, agender, polygender oder genderfluid zu sein.
In der Community-Befragung gab rund ein Drittel der Befragten an, bestimmte Plätze oder Orte zu meiden – aus Angst, aufgrund ihrer sichtbaren Zugehörigkeit zur LGBTIQ+-Community diskriminiert oder angegriffen zu werden. Diese Zurückhaltung ist nicht unbegründet, wie auch die Bevölkerungsbefragung zeigt: Insgesamt 36 Prozent der Befragten aus der Bevölkerung geben nämlich an, dass Menschen ihre sexuelle Orientierung nur zu Hause und nicht in der Öffentlichkeit zeigen sollten.
Während das alleine nicht automatisch auf eine Bereitschaft für Übergriffe und Diskriminierung schliessen lasse, zeige das breite Vorhandensein dieser Haltung, dass sichtbar andere Lebensentwürfe vielerorts nicht erwünscht seien, schreibt gfs.bern.
Jede vierte LGBTIQ+-Person hat laut der Befragung in den letzten fünf Jahren denn auch mindestens einmal körperliche oder sexuelle Übergriffe aufgrund ihrer Sexualität, ihrer Geschlechtsidentität, oder ihrer Intergeschlechtlichkeit erlebt. Eine deutliche Mehrheit von 72 Prozent der Betroffenen hat die Vorfälle nicht gemeldet. 18 Prozent der Befragten erlebte zudem Gewaltandrohungen.
Äusserungen in der Politik als Hauptgrund
Personen aus der Community, die der Ansicht sind, dass Vorurteile, Intoleranz und Gewalt gegen queere Menschen in den vergangenen fünf Jahren zugenommen haben, sehen die Gründe dafür klar in den negativen Einstellungen und Äusserungen von Politikerinnen, Politikern und politischen Parteien.
Mangelnde Unterstützung von der Zivilgesellschaft oder von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens spielen dagegen eine vergleichsweise geringere Rolle. Entsprechend ist innerhalb der Community daher auch die Ansicht, dass die Regierung nicht genügend Massnahmen zu einer Verbesserung der Situation ergreife, breit abgestützt: Lediglich 25 Prozent gaben an, es werde gegenwärtig genug getan. (sda/lab)
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