
Tabuthema: Wenn Oma und Opa Sex haben
Manuela Humbel
Jung, faltenfrei, normschön: So werden Liebende in den Medien, der Werbung aber auch der Medizin oft dargestellt. Dieses Narrativ fördert Hemmungen und befördert die Sexualität im Alter ins Abseits.
Stricken, auf die Enkelkinder aufpassen, vielleicht einen Spaziergang machen: Das sind – ganz plakativ gesagt – die Aktivitäten, die wohl den meisten Menschen einfallen, wenn sie an ihre Grosseltern denken. Oder ganz allgemein: An ältere Menschen. Dass diese aber auch sexuelle Bedürfnisse haben, wird oft vergessen, oder sogar ganz bewusst unter den Teppich gekehrt. «Ein Problem oder eine Tatsache ist, dass man davon ausgeht, dass ältere Menschen nicht mehr sexuell aktiv oder sogar asexuell sind», sagt Thomas Münzer, Chefarzt der Geriatrischen Klinik St. Gallen.
Zudem seien die Medien, die Werbung aber auch die Medizin durch ein Jugendbild geprägt, in dem alte Menschen wenig zu suchen hätten. Oft würden nur normschöne, junge Körper gezeigt. Deswegen würden die Menschen dazu neigen, Sex mit jungen Menschen in Verbindung zu bringen. Das würde die Sexualität im Alter zu einem mit Hemmungen beladenen Tabuthema machen.
«Das Begehren bleibt»
Die Adullam Stiftung aus Basel will diese Thematik jetzt enttabuisieren und hat am Dienstag eine Podiumsdiskussion organisiert. Unter dem Namen «Sexualität im Alter – das Begehren bleibt», haben vier verschiedene Expert:innen in der Kapelle des Spitals und Pflegezentrums diskutiert. Anwesend waren Isabelle Kölbl, Sexualbegleiterin, Stephan Dinkler, Pflegeexperte, Marcello Schumacher, Co-Präsident des Vereins Queer Altern der Region Basel und eben Thomas Münzer. Einig sind sich alle: Es braucht einen offenen Umgang.
«Sexualität ist schon für 14-, 15-Jährige problemlos zu haben. Die Pornoindustrie boomt, das Rotlicht-Milieu boomt. Wir alle konsumieren auf irgendeine Art. Und wenn es dann wirklich mal zum Thema wird, dann bekommen wir rote Ohren und wissen nicht mehr, was wir sagen sollen. Ich verstehe das manchmal einfach nicht», bringt es Marcello Schumacher auf den Punkt.
Hemmungen beim Personal
Auch in der Ausbildung vom Pflegepersonal sei der gehemmte Umgang mit dem Thema Sex ein Problem. Da würden die Erziehung, die Kultur oder die Religion eine Rolle spielen. Wenn das Personal Geschlechtsverkehr nur als Mittel zur Fortpflanzung sehe, als Aktivität, die nur Verheirateten vorbehalten sei oder gar als Sünde, dann werde es schwierig, einen offenen Umgang mit den Patient:innen zu haben. Auch hier sind sich alle Expert:innen einig.
Aber können ältere Menschen unter diesen Bedingungen überhaupt ihre Sexualität in einem Altersheim ausleben? Schliesslich plädieren alle Teilnehmenden des Podiums dafür, dass das ein Grundrecht sei und mit der Menschenwürde zu tun habe. «Ausleben ist zu viel gesagt», sagt Pflegeexperte Stephan Winkler. Er arbeitet für die Adullam Spitäler und Pflegezentren. «Die Patient:innen können die Sexualität leben, aber es ist immer noch ein öffentlicher Raum. Es gibt keine volle Privatsphäre. Sie können die Türe zwar schliessen, aber jedes Schliessen der Türe ist eine Ansage.»
Das mache es für die Bewohnenden nicht einfacher, ihre Sexualität zu leben. «Es sind Leute um sie herum, die es vielleicht komisch finden, dass manche in dem Alter noch sexuelle Bedürfnisse haben. Es gibt vielleicht Mitarbeitende, die sich nicht vorstellen können, dass Menschen im Alter Sexualität leben wollen, beziehungsweise leben können.» Und es gebe Personal, das die Intimitäten nicht thematisieren könne, dem es unangenehm sei.
Offener Umgang mit Sexualität verhindert Übergriffe
Dabei sei ein offener Umgang mit der Sexualität im Alter wichtig. Wenn die Bedürfnisse der Patient:innen ernstgenommen und befriedigt werden könnten, dann könnten auch sexuelle Übergriffe auf das Pflegepersonal vermindert oder gar verhindert werden. Deswegen arbeiten manche Institutionen mit sogenannten Sexualbegleiter:innen zusammen. Eine von ihnen ist Isabelle Kölbl. Sie hat das Unternehmen «sexcare» gegründet, das sexuelle Dienstleistungen für Menschen mit Behinderungen und Einschränkungen anbietet.
Kein Job zum reich werden
«Es gibt viele Menschen, die keine Möglichkeit haben, sich das Bedürfnis nach Nähe auf normale Art – ich sage dem – in der freien Wildbahn, besorgen zu können», so Kölbl. Bei ihrem Angebot würde es aber nicht nur um Sex gehen, sondern auch um Nähe oder Gespräche. Trotzdem trifft sie bei ihrer Arbeit auch auf Skepsis. Familienangehörige wollen nicht, dass sie deren Vater besucht (bis jetzt hatte sie noch keinen Auftrag einer Frau) oder sehen ihre Arbeit als «Geldmacherei» und «Ausbeutung» hilfloser Menschen.
«Mit dem wirst du nicht reich», sagt Kölbl. «Viele hören nach zwei bis drei Jahren auf, weil es einfach anstrengend und emotional sehr belastend ist.»
Sie habe in der Arbeit jedoch ihre Berufung gefunden. «Ich werde meistens sehr herzlich empfangen und die meisten finden es schön, was ich mache. Sie begegnen dem Herrn vielleicht mit einem Strahlen auf dem Gesicht und das gibt auf der Abteilung wiederum eine angenehme, entspannte Atmosphäre. Da haben alle etwas davon. Wenn es den Bewohnenden gut geht, dann geht es auch dem Pflegepersonal gut.»
Das sieht auch Thomas Münzer so: «Es ist ganz wichtig, dass man in den Kontext bringt, dass Sexualität ein ganz starker Faktor ist, der für die Lebensqualität über alle Generationen und Altersstufen hinweg relevant ist.» Wird das teilweise auch unterschätzt? «Ja», findet er. «Weil es tabuisiert wird.»
«Ich habe keinen Bock mehr»
Wenn es um Sexualität im Alter und in Pflegeheimen geht, ist aber nicht nur der Sex an sich nach wie vor ein Tabuthema, sondern auch die Orientierung.
«Im Alter ist man vulnerabler, man ist abhängig von anderen Menschen. Dann habe ich keinen Bock mehr, mich rechtfertigen oder verstecken zu müssen. Das musste ich oft genug tun», sagt Marcello Schumacher. Er ist Co-Präsident des Vereins Queer Altern der Region Basel und ist selbst mit einem Mann verheiratet. «Ich möchte, wenn ich in ein Pflegeheim muss, das Foto von meinem Mann, mit dem ich 28 Jahre zusammen bin, aufstellen können. Und sagen können, dass er mein Mann ist und nicht ein guter Freund oder mein Onkel.»
Ob Sex, kein Sex, mit wem, oder an welchem Ort – am Dienstag hat sich gezeigt: Der Gesprächsbedarf bezüglich der Sexualität im Alter ist hoch. Die Kapelle war gefüllt. Die Teilnehmenden da. Nur mit dem eigenen Namen und Bild in den Medien zu stehen, will kaum eine:r. Das zeigt, dass der Anlass gestern nötig war und womöglich nur einer von vielen ist, den es braucht, um die Thematik in der Schweizer Gesellschaft, in den Haushalten und Heimen zu entstigmatisieren.
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spalen
eigentlich sollte sex im alter gar kein thema sein müssen, sondern im rahmen der selbstbestimmung selbstverständlich sein, egal ob homo- oder heterosexuell, oder queer. eine wichtige und gute kampagne.