Teil 2 der Serie «Aus einer anderen Zeit»:  Lieber Kurt
Fiktionale Texte
Basel-Stadt

Teil 2 der Serie «Aus einer anderen Zeit»: Lieber Kurt

18.01.2023 15:37 - update 07.02.2023 08:40

Natasha Zekry

Immer wieder stösst man in Brockenhäusern auf Schriftstücke aus einer anderen Zeit. Von Fundstücken inspiriert entstand auf der Baseljetzt-Redaktion eine Serie mit fiktionalen Geschichten über Menschen aus Basel.

Auf der Suche nach Schriftstücken und Notizen aus einer anderen Zeit ist die Baseljetzt-Redaktion durch die Brockenhäuser der Stadt Basel gestreift. Inspiriert von alten Postkarten, Notizen und Fotos sind fiktionale Geschichten von Baslerinnen und Baslern aus verschiedenen Jahrzehnten entstanden.

Der zweite Text der Serie bezieht sich auf dieses Foto aus den Dreissigerjahren, gefunden in einem Band mit Shakespeare-Werken:

Teil 2 der Serie «Aus einer anderen Zeit»:  Lieber Kurt
Beim Durchblättern einer Shakespeare-Sammlung flatterte dieses alte Foto aus dem Band.

Lieber Kurt

Vielen Dank für deinen Brief. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr dieser mich erheitert. Wie du weisst, verstehen sich Mama und Vati nicht besonders gut. Sie streiten ständig, wobei Vati auch immer häufiger die Beherrschung verliert. Mama meint, das liegt wohl auch am vielen Schnaps, wobei ich mir da nicht sicher bin. Sie streiten nämlich über jeden Mist.

Neulich ist er total ausgerastet, weil ich die falschen Kartoffeln vom Markt mitgebracht habe. Unbrauchbar seien sie – genau wie ich. Wobei er sowieso keine Ahnung hat, denn Kochen ist schliesslich Frauensache. Schmecken würden sie trotzdem nicht, meinte er, wobei ich mich nicht getraut habe, ihm zu widersprechen. Mich verletzten seine Worte schon lange nicht mehr, ich mag ihn ja nicht besonders. Mir tut nur Mama leid. Sie versucht es immer allen recht zu machen, hat mit uns fünf Kindern alle Hand voll zu tun und trotzdem bekommt sie vom Alten immer wieder aufs Dach.

Ich habe sie neulich dabei erwischt, wie sie nachts ihren Koffer gepackt hat und schon aus dem Haus laufen wollte. Weil Edith so bitterlich geweint hat, hat sie es wohl nicht übers Herz gebracht zu gehen. Ich hätte es ihr nicht übelgenommen, rechne ihr aber hoch an, dass sie geblieben ist – wenn auch nur für die Jüngste, die Edith. Wenn die Beiden sich mal wieder streiten, verstecke ich mich häufig auf dem Heuboden des benachbarten Bauernhauses. Dort kuschle ich mich mit deiner Decke ins Stroh und lese Shakespeares Werke.

Den ersten Band habe ich bereits zur Hälfte durch, was mich sehr freut. Mit 1318 Seiten ist dies das dickste Buch, was ich bisher gelesen habe. Und wie du weisst, fällt mir lesen sehr schwer. Die Wörter verschwimmen teilweise in ein Buchstaben-Chaos. Vati sagt dann immer, dass ich es gleich lassen soll, denn ich sei zu dumm. Aber was weiss der schon, der war ja nie wirklich in der Schule. Mir gefällt die Geschichte von Antonius und Cleopatra am besten. Deren Geschichte ist so tragisch, dass sie mich von meiner eigenen Situation ablenkt.

Wenn ich mich gerade nicht auf dem Heuboden verstecke, fahre ich heimlich Schlittschuh. Heimlich, weil Vati auch damit ein Problem hat. Es gehöre sich nicht für Mädchen und sei anstössig, sagt er. Mir macht es aber grossen Spass und ich glaube, ich bin ziemlich gut darin. Neulich konnte ich Marion, ein Mädchen, welches ich im Dorf kennen gelernt habe dazu überreden, mitzukommen.

Sie hat dann dieses Foto von mir geschossen – und es noch vor unserer Rückkehr entwickeln lassen. Ich hatte noch nie ein eigenes Foto von mir und bin deswegen umso glücklicher, dass mir genau diese Figur geglückt ist und Marion sie getroffen hat. Danach bin ich nämlich gestützt und habe mir den Knöchel etwas verstaucht, was aber nicht weiter schlimm ist, weil die Sportferien sowieso fertig sind. Übermorgen reisen wir aus Pontresina ab und fahren zurück nach Basel.

Ich hoffe, du hattest schöne Ferien. Ich freue mich so doll auf dich.

In Liebe,

deine Lisa.

Du hast eine alte Postkarte, ein altes Dokument, einen Brief oder ein altes Foto, welches du gerne in einer fiktiven Geschichte wiederfinden würdest? Schick es uns zu auf lea.meister@telebasel.ch.

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