Vom Heimkind zum Vorbild einer neuen Generation
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Soziales Engagement
Basel-Stadt

Vom Heimkind zum Vorbild einer neuen Generation

13.09.2023 12:00 - update 13.09.2023 17:31
Larissa Bucher

Larissa Bucher

Gael Plo ist in einem Basler Kinderheim aufgewachsen. Allen Widrigkeiten zum Trotz schaffte er den Übergang in ein unabhängiges Leben. Nun hat er es sich zum Ziel gemacht, andere ehemalige Heimkinder zu unterstützen.

In seiner Kindheit war Gael Plo ein eher zurückhaltendes Heimkind. Mittlerweile ist der 23-Jährige ein selbstbewusster Mann, der vieles erreicht hat. Lange hätte man jedoch denken können, dass ihm ein Leben voller Schwierigkeiten und Herausforderungen bevorstehen wird. Wird er einen Job, eine gute Wohnung, eine Identität und seinen Weg finden? Oder könnte er Mühe haben, einen Weg einzuschlagen, der ihm eine gute Zukunft ebnen würde?

Hilfe für ehemalige Heimkinder

Gael hat sich schon von langer Zeit entschieden, dass seine Kindheit sein Leben nicht definieren soll. Im Gegenteil: Er hat seine traumatischen Erfahrungen in eine Stärke verwandelt und will nun anderen ehemaligen Heimkindern helfen, den Übergang ins selbstständige Erwachsenensein zu bewältigen.

Um seine Erfolge besser verstehen zu können, müssen wir zunächst Gael als Menschen verstehen. Der heute 23-Jährige lebte ab seinem vierten Lebensjahr in Kinderheimen oder bei Gastfamilien. Die familiäre Situation im Elternhaus war nicht mehr tragbar. Er besuchte die Schule in Basel und schloss sie im A-Niveau ab. Er hatte jedoch immer den Wunsch, mehr aus sich zu machen und beschloss, eine Lehre als Elektriker anzufangen. Darauf folgte die Berufsmatur, einige Praktika und schliesslich sein aktuelles Studium Betriebswirtschaft an der Fachhochschule Nordwestschweiz.

Vom Heimkind zum Vorbild einer neuen Generation
Gael studiert zur Zeit an der Fachhochschule Nordwestschweiz. (Bild: Instagram)

Viele Hürden auf dem Weg

Aus erster Hand musste Gael erfahren, wie herausfordernd es ist, als «Care Leaver», also eine Person, die Zeit in einem Kinderheim verbracht hat, den Schritt in die Eigenständigkeit zu wagen. «Sobald man mit 18 das Heim oder die Familie verlässt, sind die involvierten Personen und Instututionen nicht mehr finanziell für einen verantwortlich», erzählt er. Plötzlich tauchen zahlreiche bürokratische Hürden auf.

Ein Beispiel: Wenn du als Care Leaver ein Studium beginnen möchtest, ist das finanziell oft nicht machbar. Der naheliegende Schritt ist dann, sich an das Amt für Sozialbeiträge zu wenden, das für Stipendien zuständig ist. Allerdings kannst du ein Stipendium nur beantragen, wenn du alle Informationen über beide Elternteile vorlegen kannst. Bei Heimkindern ist dies oft nicht möglich.

Die Situation für Heimkinder kann noch extremer werden. «Bis zum 18. Lebensjahr müssen deine Eltern die Krankenkasse für dich bezahlen. Danach bist du selbst für diese Kosten verantwortlich», erklärt Gael. «Wenn deine Eltern keine Beträge in die Krankenkasse einbezahlt haben, erbst du zwangsläufig die Schulden deiner Eltern.» Kurz gesagt: Anstatt ein Auto zu bekommen, erhältst du 50’000 Franken Schulden als Geburtstagsgeschenk.

Daher landen weltweit rund 80% der Care Leaver in der Sozialhilfe. Das kennt auch Gael von seinem Umfeld. «Es gibt verschiedene Angebote, die dich beispielsweise juristisch unterstützen oder einen Budgetplan mit dir erstellen. Die Schulden abbezahlen, musst du aber selbst.» Es führe kein Weg daran vorbei, betont er.

Erste Erfolge: Verein Care Leaver

Um Menschen in solchen Situationen zu helfen, engagiert sich Gael seit vielen Jahren aktiv im Verein Care Leaver Schweiz. Dort unterstützt er junge Heimkinder, die ab dem 18. Lebensjahr auf sich alleine gestellt sind. Doch das reichte ihm nicht. «Wenn man wirklich etwas verändern will, muss man es politisch angehen», dachte er sich und begann, Lobbyarbeit zu betreiben. Er trat der LDP bei, knüpfte Kontakte und brachte die Problematik auf die politische Bühne – unter anderem mit der Hilfe von Alt-LDP-Nationalrat Christoph Eymann und SP-Nationalrätin Sarah Wyss.

«Ich musste zuerst alles über Politik lernen», scherzt er. «Damals konnte ich kaum alle Bundesräte benennen, und plötzlich war ich Teil des politischen Geschehens.» Mittlerweile ist er sogar Mitglied einer parlamentarischen Gruppe, die zwei bis drei Mal pro Jahr nach Bern fährt, um ihre Anliegen direkt mit den Parlamentarier:innen zu besprechen.

Erste konkrete Erfolge konnten Gael bereits verzeichnen. Er gewann den Basler Sozialpreis, wurde von der Universität St. Gallen als «Leader of Tomorrow» eingeladen und trug dazu bei, dass der Grosse Rat in Basel einen speziellen Care-Leaver-Status eingeführt hat. Letzteres bringt einige Verbesserungen für Heimkinder mit sich. «Beim Auszug aus dem Heim erhalten sie einen Gutschein, mit dem sie 30 Stunden zurück ins Heim können.» Das sei besonders wichtig, wenn man bürokratische Hilfe benötigt und diese nicht von komplett fremden Personen in Anspruch nehmen will. Darüber hinaus wurde erreicht, dass Care Leaver die Dienste der Institution «You Are» auch dann nutzen dürfen, wenn sie Sozialhilfe beziehen. Das war zuvor nicht erlaubt.

Eine der bedeutendsten Entwicklungen des Vereins ist die Einführung einer «Care Leaver-ID», die Personen offiziell als ehemalige Heimkinder ausweist. Dies erleichtert die Anmeldung für Stipendien oder Sozialhilfe, da sofort ersichtlich ist, dass es sich um Care Leaver handelt, die eine komplizierte familiäre Geschichte haben. «Die Ämter können die Fälle dann anders behandeln und wissen sofort Bescheid.» Die Care Leaver-ID sei jedoch keine Pflicht, betont Gael. «Wer nicht als Heimkind ‘gekennzeichnet’ werden möchte, muss das nicht tun.»

Weitere Ziele mit «Open Desk»

Dennoch ist Gael nicht zufrieden und möchte noch mehr tun. Das Projekt «Open Desk» zielt darauf ab, Kinder von People of Color (POC) auf ihrem akademischen und beruflichen Weg zu unterstützen. «Sie bekommen zuhause häufig nicht ausreichend Unterstützung. Unser Ziel ist es, ein Programm aufzubauen, das POC-Kindern die Möglichkeit bietet, ein Jahr lang Einblicke in verschiedene Unternehmen zu gewinnen, um sich klare berufliche Ziele setzen zu können», erklärt er. Denn Kinder mit Migrationshintergrund würde es viel schwerer fallen, ein Studium anzustreben. Häufig sind ihnen die verfügbaren Möglichkeiten in der Schweiz überhaupt nicht bewusst. Die Firmen Roche und Novartis haben bereits ihre Unterstützung für das Projekt zugesagt.

Zusätzlich wird es «inspiring evenings» geben. Eine Gruppe von 26 Mentor:innen mit diversem Hintergrund kochen gemeinsam mit POC-Kindern und beantworten deren Fragen zur Ausbildung, zu beruflichen Perspektiven und zum Leben im Allgemeinen. «Hierbei geht es vor allem darum, den Kindern Vorbilder zu präsentieren, die so aussehen, wie sie selbst», betont Gael.

Veränderung beginnt mit den Kindern

Und wie sieht Gael seine Zukunft? Obwohl er schon viel erreicht hat, sind noch lange nicht all seine Ziele erfüllt. «Es gibt viel Ungerechtigkeit auf der ganzen Welt und auch in der Schweiz. Ich will mich zukünftig international engagieren, um die Welt zu verbessern.» Seiner Meinung nach sollte man bei den Kindern ansetzen, denn sie werden in eine Ungerechtigkeit hineingeboren, für die sie nichts können. «Alle Kinder sollten die gleichen Chancen auf ein gutes Leben haben. Unabhängig von ihren Eltern oder ihrem Geburtsland.» Dies ist auch das Leitmotiv des «Open Desk»-Projekts: “If we want to make the change, we have to start with the children”.

Was Gael in seinem Leben noch alles erreichen wird, bleibt abzuwarten. Eines steht jedoch fest: Er wird nicht aufgeben, bis er einen positiven Wandel in der Welt sieht. «Ich möchte eines Tages zurückblicken und stolz darauf sein, dass ich dazu beigetragen habe, dass sich mehr Menschen für Gerechtigkeit einsetzen.» Für den Tag, an dem dies endlich der Fall ist, hebt sich Gael etwas ganz Besonderes auf: Eine Weinflasche. «Ich werde sie erst öffnen, wenn ich stolz auf alles bin, was ich erreicht habe.»

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