Eine Hausärztin im Gespräch: «Auch wir haben keine Kapazitäten mehr»
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Eine Hausärztin im Gespräch: «Auch wir haben keine Kapazitäten mehr»

05.01.2023 16:35 - update 06.02.2023 15:40
Lea Meister

Lea Meister

Seit Wochen sind die Notfallstationen der Spitäler massiv überlastet. Doch auch die Allgemeinmedizin hat keine Kapazität für neue Patientinnen und Patienten.

Anette Heierles Praxis ist gesäumt von Orchideen und kleinen Farbpunkten wie Plastikentchen mit Mundschutz und Stethoskop, die einem ins Auge stechen. «Alles Geschenke meiner Patientinnen und Patienten», sagt die Allgemeinmedizinerin und Co-Präsidentin der Vereinigung der Hausärztinnen und Hausärzte beider Basel lachend. Geschenke von Menschen, zu denen sie einen engen Kontakt pflegt, die sie in Sprechstunden in ihrer Praxis, bei Hausbesuchen oder telefonisch betreut. Für ihren Patientenstamm habe sie immer Kapazitäten. Neue PatientInnen könne sie momentan aber kaum aufnehmen und den meisten KollegInnen ginge es gleich.

Die Überbelastung der Notfallstationen in den Spitälern sorgt seit Wochen für eine hohe Anspannung beim medizinischen Personal. Die verschiedenen Infektionskrankheiten, der Personalmangel und die Krankheitsausfälle beim Personal machen der Branche zu schaffen. Menschen werden wieder nach Hause oder in Hausarztpraxen geschickt. Diese wiederum sind ebenfalls am Anschlag. Auch HausärztInnen erleben hautnah, wie sich die Situation auf den Notfällen präsentiert, da sie regelmässig für Einsätze in den Spitälern eingeplant werden. Heierle arbeitete beispielsweise an Heiligabend, wo sie von der Rüstverletzung bis zu Grippesymptomen mit allem zu tun hatte. Durch die Einsätze der Randzeiten entstehe ein guter Kontakt und gegenseitiges Verständnis zwischen der Allgemein- und der Notfallmedizin. Die Stimmung in den beiden Basel sei gut, sagt Heierle.

Viele Menschen kommen mit grossen Ängsten

Doch nicht nur Personalmangel und Ausfälle sorgen für die Überlastung der Notfälle: Menschen gehen mit Banalitäten zum Arzt. «Wer Fieber und Husten hat muss in den allermeisten Fällen nicht bei uns antraben, sondern sollte sich auskurieren, wie das bei einer Grippe eben ein paar Tage nötig ist», sagt Heierle. Viele Menschen werden allerdings von Ängsten geplagt. Ob dies kleine oder grosse Ängste seien, liege nicht im Ermessensspielraum der Notfall- und AllgemeinmedizinerInnen, so Heierle. «Ich nehme jeden Patienten ernst, der zu mir kommt.»

Dennoch sei es wichtig, das Bewusstsein für Symptome zu schärfen, die einen Arztbesuch rechtfertigten und, solche, die das vermutlich eben nicht tun. «Das können wir über die sogenannte Gesundheitserziehung erreichen», sagt Heierle und macht auf die gesellschaftliche Verantwortung jedes einzelnen aufmerksam. Also die Schärfung des Bewusstseins für die richtige Einschätzung eigener Symptome und die damit zusammenhängende Dringlichkeit eines Arztbesucht. Einerseits könne und müsse dies natürlich in den Schulen passieren, allerdings nehme sie da aber auch Eltern in die Verantwortung.

Meist nicht überlappende Berichterstattung

Hinzu komme die wichtige und oft unterschätzte Frage, auf welchen Kanälen wir wen erreichen. Wie holen sich Menschen ihre Informationen? Gerade MigrantInnen konsumieren gerne Medien ihres Heimatlandes, was auch «völlig nachvollziehbar ist», wie Heierle sagt. Es bestehe dann allerdings die Gefahr, dass sie wichtige Informationen, die ihren Wohnort betreffen, verpassen oder zu spät mitbekommen. Der Ausbruch einer Viruserkrankung beispielsweise passiert in verschiedenen Ländern meistens zeitlich versetzt, entsprechend ist auch die mediale Berichterstattung zu einem Thema meist nicht überlappend.

Auch hier nimmt Heierle alle in die Verantwortung. Es könne nicht nur Aufgabe der Behördenkommunikation sein, dafür zu Sorgen, dass alle Bevölkerungsgruppen an die wichtigsten Informationen kommen. «Wir alle können dazu beitragen, dass Informationen Verbreitung finden.» Eine Möglichkeit wäre beispielsweise, auf den Notfallstationen Daten zu erheben darüber, weshalb jemand sich für den Gang auf die Notfallstation entschieden hat und, wo er oder sie sich die nötigsten Informationen aus dem medizinischen Bereich herholt.

Anspruchshaltung lässt sich nicht rückgängig machen

So könnte ein breiteres Bild als Grundlage für weiterführende Massnahmen entstehen. Doch auch bei allen Optimierungsmöglichkeiten gibt es einen Aspekt, der kaum mehr aufzuhalten ist: «Die Schnelllebigkeit unseres Alltags hat unsere Anspruchshaltung verändert», so Heierle. Wir seien uns eine sofortige Befriedigung unserer Bedürfnisse gewöhnt, auch im medizinischen Bereich. Daran könne kaum mehr gerüttelt werden.

«Was wir aber können und sollten, ist, auf das medizinische Personal Acht zu geben.» Es brauche wieder etwas mehr Dankbarkeit und Respekt. «Gerade die Arbeit auf den Notfallstationen ist aus meiner Sicht die heftigste aller Arbeiten im medizinischen Bereich.» Wenn also dem Personalnotstand entgegengewirkt werden soll, müsse der Job wieder attraktiver gemacht werden. Dies gelte auch für den HausärztInnen-Beruf. «In der Region Basel gibt es leider nicht genügend HausärztInnen und viele PatientInnen finden nur schwer einen Platz in einer Hausarztpraxis.»

Komplexes Thema, das mehrere Blickwinkel verlangt

«Unser Beruf ist toll und sehr erfüllend. Wenn AbsolventInnen sich aber lieber spezialisieren möchten, weil sie dann mehr verdienen und strukturiertere Schichten haben, müssen wir eben etwas tun, um unseren Beruf wieder attraktiver zu machen», sagt Heierle. Auch dieser Punkt ruft nach gesellschaftlicher Verantwortung. «Im Raum stehen bleibt die Frage, welche Form der medizinischen Grundversorgung wir möchten und uns als Gesellschaft auch leisten wollen. Der Anspruch der Bevölkerung, jederzeit einen uneingeschränkten Zugang zu medizinischen Leistungen zu haben, deckt sich nicht mit einem System, das nicht darauf ausgerichtet ist, medizinische Notfälle jederzeit versorgen zu können.»

Menschen, die wegen Banalitäten Notfallstationen aufsuchen, fehlendes Personal, Nachwuchsprobleme in der Allgemeinmedizin, Menschen, die die wichtigen, lokalen Informationen nicht mitbekommen, die Gesellschaft, die immer älter wird – die Situation zeigt also deutlich auf, dass ein Lösungsansatz nur dann gefunden werden kann, wenn das Problem nicht nur aus einem einzigen Blickwinkel heraus betrachtet wird. «Sie sehen, es ist ein unheimlich komplexes Thema», betont Anette Heierle nochmals und macht sich auf den Weg zu ihren nachmittäglichen Hausbesuchen.

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