Wieso nehmen sich so viele Tierärzte das Leben?
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Medizin
Schweiz

Wieso nehmen sich so viele Tierärzte das Leben?

22.01.2023 07:11 - update 23.01.2023 15:50
Nathalie Schaffner

Nathalie Schaffner

Diverse Studien belegen eine traurige Tatsache: Die Suizidrate bei Tierärztinnen und Tierärzten ist sehr hoch. Die Gründe dafür sind vielseitig. Hinter dem Beruf steckt mehr, als viele vermuten.

Gemäss einer Untersuchung der Universitäten Berlin und Leipzig ist das Suizidrisiko deutscher TiermedizinerInnen fünfmal höher als in der Allgemeinbevölkerung. Auch die Wahrscheinlichkeit, unter einer Depression zu leiden, ist dreifach erhöht. Bei Studierenden ist es sogar noch extremer: Beinahe 46 Prozent leiden unter einer Depression und bei fast einem Viertel besteht Suizidrisiko.

Warum ist das so? Die Tierärztinnen A. L.* und S. B.* geben Einblick in die Realität des Berufsalltags.

Lange Tage, wenig Lohn

Die junge Baslerin A. L. hat sich nach der eidgenössischen Abschlussprüfung für eine klinische Nachdiplom-Ausbildung, Internship genannt, entschieden. Diese ist Voraussetzung, um sich spezialisieren zu können. Während dieser Ausbildung sollen die Auszubildenden verschiedene Abteilungen und Fachgebiete genauer kennenlernen und werden dabei betreut. In der Realität sieht es jedoch teilweise anders aus, wie A. L. erfahren musste.

A. L. hat in einer Klinik mit Notfalldienst jedes zweite Wochenende gearbeitet – in der Regel gegen 15 Stunden ohne richtige Pausen. Als Assistenzärztin oder Assistenzarzt hat man vertraglich oft eine 45-Stunden-Woche. Dazu kommen Überstunden, die so gut wie täglich anfallen. Eine Woche im Monat musste A. L. Nachtdienst leisten. Obwohl sie erst kürzlich das Studium abgeschlossen hatte, war sie in der Nacht allein für die Tiere verantwortlich. «Ein medizinisches Backup gab es nicht. Wenn ich aufgrund meiner fehlenden Erfahrung nicht weiterwusste, musste ich einfach hoffen, dass das Tier bis am nächsten Morgen überlebt», erzählt A. L.

Fast jedes Wochenende sei jemand krankheitsbedingt ausgefallen und man musste spontan einspringen. Gegen die Unterbesetzung habe die Leitung der Klinik nichts unternommen. Im Gegenteil – als A. L. sich wehren wollte, weil sie weder betreut wurde noch wie vereinbart Einblicke in verschiedene Abteilungen erhalten hat, sei ihr mit der Kündigung gedroht worden. Wertschätzung gab es lediglich in Form von 3’000 Franken Lohn – einem Betrag, der vergleichsweise zu anderen Internship-Stellen hoch ist. Kompensationstage für die Überstunden waren aufgrund der Unterbesetzung nicht möglich. Zusammenbrüche während der Arbeit kamen regelmässig vor, die Klinikleitung wusste davon.

Hohe Erwartungen, hoher Druck

«Das Schlimmste ist der Druck der Tierbesitzer:innen. Viele haben das Gefühl, es besser zu wissen. Insbesondere als junge Frau muss ich viel diskutieren, damit sie mir glauben, auf mich hören und mir vertrauen», berichtet A. L. weiter. Mit den Fortschritten in der Medizin steigen auch die Erwartungen. «BesitzerInnen möchten, dass wir alles für das Tier machen, aber kosten darf es nichts», so die Baslerin.

Sowohl für S. B. als auch für A. L ist es nicht einfach, abends abzuschalten. Häufig überlege man sich nach Feierabend, ob man alles richtig gemacht habe und, ob die BesitzerInnen wohl zufrieden sein werden.

Kein Mädchentraum

S. B. ist seit 19 Jahren Tierärztin und Teil der Geschäftsleitung einer Privatpraxis in der Region. Für sie ist klar, dass die Vorstellungen vom Beruf oft nicht mit der Realität übereinstimmen. Der Wunsch, Tieren zu helfen, sei gross, doch diesen könne man nicht immer erfüllen. Die körperliche Belastung sei nicht zu unterschätzen, die Nacht- und Wochenenddienste erschwerten eine Vereinbarung von Beruf und Privatleben und es gebe immer wieder Extremsituationen, die emotional stark belastend seien.

Um mit den schwierigen Situationen umgehen zu können, brauche es gemäss S. B. genügend Erholungszeit. Daher sind in ihrer Praxis alle Teilzeit angestellt. «Es ist illusorisch, in diesem Beruf heutzutage 100 Prozent zu arbeiten.»

Der Vergleich zur Humanmedizin

Menschen sind versichert, Tiere häufig nicht. Das führt zu täglichen Diskussionen und Rechtfertigungen. Es sei jedes Mal wie eine Faust ins Gesicht, wenn die Kundschaft denke, dass man sie abzocken möchte, obwohl sie von diesem Geld nur sehr wenig sehe, berichtet A. L.

Im Vergleich zur Humanmedizin oder anderen akademischen Berufen, verdient man in der Veterinärmedizin sehr wenig. Je nach Anstellung und Bereich unterscheiden sich die Saläre von Human- und VeterinärmedizinerInnen markant. Bei selbständigen SpezialistInnen weichen die Gehälter jährlich um über 134’000 Franken ab. Das zeigen Vergleiche der Zahlen der BASS und der Gesellschaft Schweizer Tierärztinnen und Tierärzte.

Zudem sei in der Tiermedizin die Erwartungshaltung da, dass alles sofort passieren müsse, wie A. L. erzählt. «Ich gehe auch nicht zu meinem Hausarzt und erwarte von ihm am selben Tag noch einen Ultraschall und eine dermatologische Untersuchung – aber bei uns wird das verlangt.» BesitzerInnen seien wütend, wenn sie bei einem nicht dringenden Problem 30 Minuten auf dem Notfall warten müssen. Da werde oft vergessen, dass man in der Humanmedizin häufig mehrere Stunden warten müsse.

Auch sei vielen Menschen nicht klar, dass es auch in der Veterinärmedizin SpezialistInnen gibt. Häufig werde gemäss A. L. erwartet, dass man als Assistenzärztin in jedem Bereich Spezialwissen habe.

Ein weiterer Punkt, der die hohe Suizidrate erklärt, ist der Zugang zu Suizidmitteln. Zwar haben Humanmediziner:innen auch mit Betäubungsmitteln zu tun, ein Einschläfern wie es Tiermediziner:innen machen, findet so aber nicht statt. «Wer leicht an tödliche Mittel kommt, begeht häufiger Suizid», bestätigt das Bundesamt für Statistik.

Situation schon während Studium prekär

Auch den Universitäten Bern und Zürich ist die Problematik bekannt. «Es ist ein Riesenproblem und wir versuchen, etwas dagegen zu unternehmen», erzählt Thomas Lutz, Prodekan der Vetsuisse-Fakultät Zürich. Bei der letzten Vereinigung aller Veterinärmedizinfakultäten Europas war das Thema der psychischen Gesundheit ein Schwerpunkt. In Zürich sei die Problematik auch den Studierenden bewusst, man versuche, transparent darüber zu sprechen.

An der Uni Bern merkt man, dass der Druck bereits im Studium sehr hoch ist. Die Anzahl an Studierenden nehme während der fünfeinhalbjährigen Ausbildung stetig ab, viele Studierende suchen das Gespräch und nutzen Beratungsstellen, erzählt Corinne Gurtner, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Uni Bern.

Fakultäten haben Massnahmen ergriffen

In einer noch nicht publizierten Forschung hat sie die psychische Gesundheit von Studierenden untersucht und musste feststellen, dass die Situation genauso schlimm ist wie im Ausland. Dies wurde mit einer anderen unabhängig davon durchgeführten noch nicht publizierten Studie bestätigt.

Beide Fakultäten haben Massnahmen ergriffen. Es sollen Massnahmen im Studiengang verankert werden, um die Studierenden zu unterstützen. Unter anderem sollen mit der Beteiligung am Projekt «Happy Vet» angehende und ausgebildete Tiermediziner:innen besseren Zugang zu professioneller Hilfe erhalten und durch verschiedene Angebote soll die mentale Gesundheit verbessert werden.

Zudem hat man an beiden Standorten das Studium um ein Semester verlängert. Studierende sollen früher mit dem praktischen Arbeitsalltag in Kontakt kommen, um zu sehen, was der Job mit sich bringt. Mit dem neuen Studienplan wird auch vermehrt auf den Umgang mit der Kundschaft fokussiert.

Es geht auch anders

Das Problem existiere schon lange. Neu sei lediglich, dass man nun darüber spricht und die Probleme angehe, erklärt Corinne Gurtner. Zwar hinke die Schweiz mit Massnahmen hinterher, aber nun finde auch hier ein Umdenken statt.

Was müsste sich denn ändern? Bei der Antwort auf diese Frage sind sich die beiden Tierärztinnen einig. Würden mehr Menschen ihre Tiere versichern, könnten höhere Preise und somit höhere Löhne durchgesetzt werden.

A. L. hat nach Abschluss des Internships die Stelle gewechselt. Obwohl sie nun einen um einiges längeren Arbeitsweg hat, ist sie froh über den Wechsel. «Ich habe in der neuen Klinik gemerkt, dass es auch anders geht.» Es sei nach wie vor streng, aber das liege in der Natur des Berufs. Doch der neue Arbeitgeber versuche alles, um die Angestellten zu entlasten.

Neben den beiden Universitäten blickt auch S. B. optimistisch in die Zukunft. Sie ist sich sicher, dass sich die Situation bessert. «Die neue Generation wehrt sich. Arbeitgeber müssen sich anpassen, ansonsten können sie bald niemanden mehr einstellen.»

*Namen der Redaktion bekannt

Die Arbeitsbedingungen von Tierärzt:innen und die eingangs erwähnte Studie sind Thema im Telebasel-Talk vom Mittwoch, 25. Januar 2023 um 18:45 Uhr.

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