Plot-Twist bei Messerattacke? Beschuldigter könnte sogar das Opfer sein
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Gerichtsfall
Basel-Stadt

Plot-Twist bei Messerattacke? Beschuldigter könnte sogar das Opfer sein

09.04.2024 14:22 - update 10.04.2024 09:04
David Frische

David Frische

Ein 42-Jähriger soll vergangenen Sommer in einem Haus im Kleinbasel auf einen Kollegen eingestochen und ihn schwer verletzt haben. Das Strafgericht muss nun beurteilen, was hinter der schweren Anschuldigung steckt.

Erst koksten sie zusammen in der Wohnung, dann gingen sie sich an die Gurgel und schliesslich zückte einer das Messer. Das Basler Strafgericht verhandelt seit Dienstag eine brutale Auseinandersetzung im Kleinbasler Drogenmilieu. Angeklagt ist ein 42-jähriger Marokkaner, der im Juli 2023 seinen Landsmann und Kollegen in einer Liegenschaft im Kleinbasel zu töten versucht haben soll. So die Anklage der Staatsanwaltschaft.

Videoaufnahmen belegen brutalen Angriff

Das Opfer habe vom Beschuldigten Kokain bezogen, die fälligen 40 Franken aber nicht sofort bezahlen wollen. Daraufhin sei ein Streit in der Wohnung ausgebrochen, der sich später ins Treppenhaus verlagerte. Der Angeklagte habe schliesslich mit einem Schweizer Sackmesser mehrmals auf seinen Kollegen eingestochen und so dessen Leben gefährdet, schreibt die Stawa in ihrer Anklage.

Fest steht, dass sich die beiden Männer in besagter Liegenschaft heftig stritten und gegeneinander gewalttätig wurden. Beide bestätigen dies vor Gericht. Der Angeklagte bestreitet auch nicht, mit einem Messer auf den Bekannten eingestochen zu haben. Videoaufnahmen aus dem Treppenhaus belegen das. Er sei selbst zusammengeschlagen worden und könne sich an nicht viel erinnern, sagt der Beschuldigte am Dienstag vor Gericht aus. «Als ich die Bilder später sah, bin ich erschrocken und es tut mir leid. Ich weiss wirklich nicht, wie es dazu kommen konnte», beteuert er.

Liegenschaft wohl ein Drogen-Umschlagplatz

In der Tat ist vieles in Zusammenhang mit der Tat noch offen. Beide Männer geben zu, vor dem Streit gekokst zu haben, dies auch miteinander in der Wohnung des Angeklagten. Ein medizinisches Gutachten stellte gleichentags Kokain im Körper des Beschuldigten fest. Die Aussagen der Beiden lassen vermuten, dass es sich bei der Liegenschaft im Kleinbasel um einen Drogen-Hotspot handelt. Dealer und Konsumenten würden dort ein und ausgehen, sagen sowohl der mutmassliche Täter als auch das Opfer.

Das Gericht steht nun vor der Frage, was zum Streit führte und warum dieser derart eskalierte. Ging es wirklich nur um die 40 Franken, die der Beschuldigte von seinem Bekannten für das Kokain verlangte? Welche Rolle spielte allenfalls der Umstand, dass der Beschuldigte zwei Tage zuvor die Kündigung für seine Wohnung erhalten hatte?

Der Angeklagte bezog zu diesem Zeitpunkt Sozialhilfe. Seine Betreuerin schilderte vor Gericht, dass sich der Beschuldigte bei ihr mehrfach über katastrophale Zustände im Wohnhaus beklagte, dass Dealer und Konsumenten dort regelmässig verkehren würden. Und dass er vom Opfer der Messerattacke und dessen Umfeld wiederholt unter Druck gesetzt worden sei. Sie gingen ungefragt in seiner Wohnung ein und aus, koksten und dealten dort, wie er behauptet. Es besteht also zumindest die Möglichkeit, dass der Beschuldigte den Bekannten für die Wohnungskündigung verantwortlich machte oder dass diese zumindest Gegenstand des Streits war.

Angeklagter nur teilweise schuldfähig

Das medizinische Gutachten attestiert dem Angeklagten zudem eine reduzierte Schuldfähigkeit. Das Gutachten bezieht sich auf einen Vorfall aus dem Jahr 2004. Damals stürzte der Beschuldigte laut eigener Aussage aus dem Fenster. Er trug ein Schädel-Hirn-Trauma davon, das auch bleibende Hirnschäden verursacht haben könnte. Auch leidet er an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Der Beschuldigte gibt zudem an, an Epilepsie zu leiden. Diese allfälligen, bleibenden Schäden im Gehirn könnten eine Ursache für solch aggressives Verhalten wie in jenem Streit sein, erklärt der Gutachter vor Gericht. Wenn der Angeklagte dann noch Kokain konsumiert, sinke die Hemmschwelle. Ein Umstand wie eine Wohnungskündigung oder eine Geldforderung könnte dann ein Auslöser für eine solch heftige Gewalttat sein, vermutet der Arzt.

Die Opfervertretung forderte vor Gericht, dass zusätzlich ein psychiatrisches Gutachten zum Beschuldigten eingeholt wird. Das Fünfergericht lehnte die Forderung ab, Staatsanwaltschaft und Verteidigung verzichteten ebenfalls darauf. Es bleiben aber weitere Fragen für das Gericht zu klären. Zum Beispiel, wer beim Streit sonst noch anwesend war und welche Rolle die weiteren Personen spielten.

Angeklagter stahl Laptops aus Auto

Der Angeklagte wird auch beschuldigt, Stunden nach der Tat mehrere Wertgegenstände aus einem Auto gestohlen zu haben. Er gibt vor Gericht zu, zwei Laptops gestohlen zu haben. «Das tut mir leid und ich entschuldige mich bei der Geschädigten», sagt er unter den Augen der Richterin. Er habe damit Schulden bei Dealern für bezogenes Kokain begleichen wollen.

Wollte der Beschuldigte den Bekannten töten …

Es gibt Fälle, die im Laufe der Verhandlung vor Gericht eine überraschende Wendung nehmen. Solch ein Fall könnte dieses Gewaltdelikt im Drogenmilieu sein. Zumindest nach Sicht der Verteidigung. Ihr Plädoyer steht zu weiten Teilen diametral zur Sichtweise der Staatsanwaltschaft.

Für die Klägerseite, also die Stawa, ist klar: Am 6. Juli 2023 kam es zu einer brutalen Gewalttat durch den Angeklagten. Die Beweislast: erdrückend. Die Stawa beruft sich auf die Aufnahmen der Überwachungskamera im Eingangsbereich des Hauses, die den Messerangriff zeigen. Zudem gebe es Aussagen des Opfers, des Hauswarts, des Zimmernachbars und eines Zustellweibels des Betreibungsamts Basel-Stadt, die zu diesem Zeitpunkt alle ebenfalls am Tatort gewesen seien. Der Beschuldigte selbst gab zu, ein Messer gehabt zu haben, auf dessen Griff seine DNA-Spuren festgestellt worden seien, auf der Klinge zudem die DNA des Opfers. «Ohne das beherzte Eingreifen des Hauswarts wäre das Opfer heute wohl nicht mehr am Leben», ist die Staatsanwältin überzeugt.

Sie fordert für den Angeklagten neun Jahre und elf Monate Haft wegen versuchter vorsätzlicher Tötung und Diebstahls, dazu eine unbedingte Geldstrafe von 300 Franken und eine Busse von 700 Franken wegen Drohung und Beschimpfung. Dazu will sie für den Beschuldigten einen lebenslangen Landesverweis.

… oder ist er am Ende gar selbst das Opfer?

Der Verteidiger hingegen zweifelt vieles an, was für die Stawa erwiesen ist. Nämlich praktisch all das, was sich abseits der Überwachungskamera abspielte und somit nicht auf Video festgehalten ist. Die Aussagen seines Mandanten seien durchs Verfahren hindurch dieselben und stringent, so der Verteidiger. Nicht so die Schilderungen des Opfers und der Zeugen, wie er findet. Es fänden sich Widersprüche darin. Zudem hätten die Beteiligten viele Aussagen nur in der ersten Einvernahme gemacht, wo die Verteidigung selbst aber nicht dabei gewesen sei, weil sie damals nichts von der Einvernahme gewusst habe. Somit könnten die betreffenden Aussagen nicht verwendet werden, fordert der Verteidiger vom Richtergremium.

Aus den Aussagen des Angeklagten schliesst der Verteidiger zudem, dass der Mandant nicht der Täter, sondern vielmehr das Opfer sei. Wiederholt habe er gegenüber der zuständigen Sozialarbeiterin gesagt, dass er sich in der Liegenschaft nicht wohl fühle, da viele Drogen konsumiert und gedealt würden. Die Sozialarbeiterin bestätigt dies als Zeugin vor Gericht. Das Opfer des Messerangriffs und dessen Bekannte hätten den Beschuldigten zudem ausgenutzt und unter Druck gesetzt, so der Verteidiger. «Sie nutzten ihn als Anker in diesem Haus, um dort Drogen zu verkaufen und zu konsumieren.» Sein Mandant habe gar Drogen konsumiert, um sich anzupassen und im Haus wohnen bleiben zu können.

Auf dem Video sei ein Messerangriff zu sehen. Aus Sicht des Verteidigers sticht er einmal auf das Opfer ein und lässt sich dann ohne grosse Gegenwehr vom Hauswart wegziehen. Eine Absicht, das Messer danach in den Hals des Opfers zu stecken, könne er nicht erkennen. Für den Verteidiger ist bloss gegeben, dass der Angeklagte eine schwere Körperverletzung bei seinem Bekannten in Kauf nahm, nicht aber versuchte, diesen zu töten. Die Drohungen und Beschimpfungen könnten zudem nicht bewiesen werden.

Der Verteidiger fordert für den Beschuldigten eine Freiheitsstrafe von 14 Monaten wegen der versuchten schweren Körperverletzung und des eingestandenen Diebstahls der Laptops. Eine versuchte vorsätzliche Tötung liege nicht vor. Wegen des Drogenkonsums sei zudem «eine angemessene Busse» auszusprechen.

Die Opferhilfe forderte vor Gericht eine Genugtuung für das Opfer in Höhe von 2000 Franken.

Das Urteil wird für den kommenden Montag erwartet.

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Kommentare

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09.04.2024 20:09

PRodriguez

Welch eine durchschaubare Strafforderung der Verteidigung.
Bei 14 Monaten Haftstrafe dürfte der Beschuldigte, gutes Benehmen in der jetzigen Anstalt vorausgesetzt, praktisch direkt nach dem Urteil frei kommen, da zwei Drittel der Haftstrafe abgesessen.

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