Konsternierung, Überraschung, Freude: Die Reaktionen auf das EGMR-Urteil
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Klimaseniorinnen
Schweiz

Konsternierung, Überraschung, Freude: Die Reaktionen auf das EGMR-Urteil

09.04.2024 14:12 - update 09.04.2024 15:13

Baseljetzt

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ist auf die Beschwerde der Klimaseniorinnen eingetreten und hat eine Verletzung der Menschenrechtskonvention festgestellt. Die Reaktionen sind unterschiedlich.

WWF

Der Sieg der Klimaseniorinnen vor dem Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ist laut dem Umweltschutzverband WWF ein Erfolg für alle Generationen. Es sei ein weitreichender Präzedenzfall, schrieb WWF Schweiz auf X. «Offizeller geht’s kaum: Die Schweiz muss endlich handeln», so der Verband.

GLP-Nationalrat Jürg Grossen

Für den Berner GLP-Nationalrat Jürg Grossen ist die Rüge der Strassburger Richter an die Adresse der Schweiz keine Überraschung: «Wir wissen, dass wir nicht genug für das Klima machen.» Es sei aber richtig, dass das nun auch international festgestellt worden sei.

Die Schweiz mir ihren hohen Klimaschulden und gleichzeitig vielen Mitteln in Sachen Technologie und Wissen müsse in Klimafragen ein Vorbild sein, sagte Grossen am Dienstag auf Anfrage der Nachrichtenagentur Keystone-SDA. «Wir müssen unsere Hausaufgaben selber machen.»

Zentral dafür sei das am 9. Juni zur Abstimmung kommende Stromgesetz, das den Ausbau erneuerbarer Energien in Inland fördern will. Das CO2-Gesetz, das Grossen als «zahnlos» bezeichnet, sei dagegen ein Beispiel dafür, dass die Schweiz zu wenig mache in Sachen Klimaschutz. Das Gesetz sei jedoch «besser als nichts».

Laut Grossen braucht es insbesondere in den Kantonen weitere Anstrengungen zur Bekämpfung des Klimawandels. Er denkt dabei beispielsweise an die Förderung von Gebäudesanierungen.

Nationalrat Mike Egger

SVP-Nationalrat Mike Egger (SG) bezeichnete das EGMR-Urteil am Dienstag auf Anfrage der Nachrichtenagentur Keystone-SDA als «lächerlich». Es sei immer gefährlich, wenn Gerichte Politik machten.

Die Schweiz mache gute Umweltpolitik und investiere jedes Jahr Milliarden von Franken – mit Erfolg, sagte Egger. «Wir haben uns in vielen Punkten verbessert und den Treibhausgasausstoss pro Kopf und auch den Erdöl- und Stromverbrauch deutlich gesenkt.» Dies bestätigten Zahlen des Bundes.

Das Urteil aus Strassburg berücksichtige jedoch Aspekte wie die «massive Zuwanderung» in den vergangenen zwanzig Jahren nicht, sodass die in der Schweiz ergriffenen Massnahmen unterschätzt würden. Egger sieht aus diesen Gründen «definitiv keinen zusätzlichen Handlungsbedarf» nach der Rüge gegen die Schweiz. Umweltminister Albert Rösti habe bereits eine klare Strategie, wie er Umwelt- und Nachhaltigkeitsthemen angehen wolle.

Bundespräsidentin Viola Amherd

Bundespräsidentin Viola Amherd hat sich vom Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) gegen die Schweiz überrascht gezeigt. Dem Land seien nämlich Nachhaltigkeit, Biodiversität und das Nettonullziel «sehr wichtig», sagte Amherd in Wien.

Die Begründung des Urteils zu einer Klage einer Gruppe von Schweizer Seniorinnen wegen zu wenig Klimaschutz interessiere sie, sagte Amherd bei einer Pressekonferenz mit dem österreichischen Bundespräsidenten Van der Bellen anlässlich ihres Besuchs in Österreich. Sie sei daher gespannt, die Details des Urteils zu lesen, und werde danach eine Stellungnahme abgeben.

Nationalrat Christian Wasserfallen

«Völlig unverständlich» ist das Urteil für den Berner FDP-Nationalrat Christian Wasserfallen. Das Gericht verstehe die Schweizer Demokratie nicht, sagte er mit Verweis auf das 2021 an der Urne abgelehnte revidierte und verschärfte CO2-Gesetz. Den Bundesrat allein für dieses Nein verantwortlich zu machen, sei «ein Witz».

Dank der direktdemokratischen Mittel könnten sich in der Schweiz die Menschen mit ihren Anliegen bemerkbar machen, so Wasserfallen. Auch der St. Galler Mitte-Nationalrat Nicolò Paganini ist der Ansicht, dass die Rüge eigentlich ans Schweizer Stimmvolk geht für das Nein zum von seiner Fraktion unterstützten strengeren CO2-Gesetz.

«Im Schweizer System können keine Richter Entscheide von Volksabstimmungen umstossen», sagte Paganini. Das sei Teil der politischen Kultur in der Schweiz. Er schlägt vor, dass die Klimaseniorinnen eine Volksinitiative starten könnten mit ihrem Anliegen.

Die Grünen

Für die Grünen bedeutet das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) einen Paradigmenwechsel. Das Recht auf eine gesunde Umwelt sei gemäss dem Urteil ein Grundrecht, sagte Parteipräsidentin Lisa Mazzone.

Es sei das erste derartige Urteil für ein Land, sagte Mazzone am Dienstag in Bern vor den Medien. Es setze ein klares und verbindliches Ziel, lasse aber die Mittel offen, um dieses zu erreichen. Den Grünen reicht nicht, was im Klimaschutzgesetz steht, das vergangenes Jahr an der Urne angenommen wurde.

Für die Landwirtschaft, die Finanzbranche und den Luftverkehr gebe es keine Emissionsziele, sagte Grünen-Fraktionschefin Aline Trede (BE). Ebenso wenig habe die Schweiz das von den Grünen bereits früher geforderte Kohlenstoff-Budget. Dieses müsse auch graue Emissionen enthalten.

Weiter fordern die Grünen eine Klimaverträglichkeitsprüfung sowie eine CO2-Verträglichkeitsprüfung bei neuen und revidierten Gesetzen und eine Grundlage für die Zulässigkeit von Klagen zum Klima. Klagen sollten künftig nicht mehr an die direkte Betroffenheit geknüpft werden müssen, sagte Trede dazu.

Die Grünen wollen ihre Forderungen mit Vorstössen aufgreifen und in der Sommersession des eidgenössischen Parlaments eine Sondersession beantragen. Ausserdem verlangen sie bis in sechs Monaten einen Plan vom Bundesrat zur Umsetzung des Urteils aus Strassburg.

Verschiedene Reaktionen

Die Schweizerische Energiestiftung (SES) bezeichnete das Urteil in einer Mitteilung auf X als historischen Sieg. Für den Verein Klimaschutz bestätigt das Urteil ein schon lange bestehendes Anliegen des Vereins. Die Schweiz mache nach wie vor zu wenig für den Schutz ihrer Bevölkerung vor den Folgen der Klimakrise.

Die Grünen wollten das Urteil am Dienstagnachmittag an einer Medienkonferenz kommentieren. Ob sich der Bundesrat zum Richterspruch äussern wird, war am Mittag noch offen. (sda/mei)

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