«Nicht viele haben mit nur 41 Jahren derart viel erlebt wie mein Sohn»
©Bilder: Lea Meister & Screenshot SRF
«Dare»
Basel-Stadt

«Nicht viele haben mit nur 41 Jahren derart viel erlebt wie mein Sohn»

06.12.2023 18:50 - update 11.12.2023 09:38
Lea Meister

Lea Meister

Vor Kurzem wurde eine Anlage in Basel nach Sigi von Koeding benannt. Der 2010 verstorbene Graffiti-Künstler ist für die einen der Grösste – für andere völlig unbekannt. Eine Ode an einen Basler, der auf seine Art die Graffiti-Welt verändert hat.

Wir schreiben das Jahr 2008 und Sigi von Koeding alias «Dare» fährt mit einem Freund in einem Mietauto durch einen Aussenbezirk in New York. Als sie zwei Jungs sehen, die gerade ein Bild sprayen, halten sie an und schauen ihnen zu. Irgendwann fragt Dare, ob er auch mitmalen könne. «Kannst du denn malen? Und hast du einen Namen?», fragt ihn einer der beiden. Dare hebt seinen Pulli an und zeigt ihm seine Gürtelschnalle aus Metall, auf der sein Sprayer-Name steht. Sofort wissen die Jungs, dass sie gerade die Chance ihres Lebens haben, geben ihrem grossen Vorbild Spraydosen und nehmen ihn in ihre Mitte.

«Nicht viele haben mit nur 41 Jahren derart viel erlebt wie mein Sohn»
Dares legendäre Gürtelschnalle im Atelier seiner Mutter. Bild: zvg

Eine Gürtelschnalle? Wie kann es sein, dass ein Objekt solch eine Wirkung hat? In der gemütlichen Stube in ihrer Wohnung in Bottmingen hat Yvette Amann, Dares Mutter, alte Skizzenbücher ausgelegt. Sie erzählen Geschichten jahrzehntelanger Hingabe und Verbissenheit. Geschichten eines Graffiti-Künstlers, der sich weltweit einen Namen gemacht hat und die Szene geprägt hat wie kaum ein anderer.

Geschichten eines Jungen, der schon früh seine Schulhefte bemalte, weshalb diese stets mit der rauen Seite des Papiers nach aussen hin eingebunden werden mussten – damit die Farbe besser hielt. Eines Jungen, der einmal der erste werden sollte, der Aufträge im Graffiti-Bereich erhält. Eines Jungen, dessen Bilder noch Jahre später an der sogenannten «Line», der Zugeinfahrt nach Basel, zu sehen sein werden.

Seine Mutter stellte die Regeln auf

Die Handelsschule brach er ab. Er schaue nur zum Fenster raus und male in seine Hefte, hiess es damals. Die anschliessende Ausbildung zum Schriftenmaler schloss er fast ab, weil ihm die Tätigkeit aber zu wenig kreativ war, brach er auch diese ein Dreivierteljahr vor seinem Abschluss ab. Zuhause rumsitzen war keine Option, deshalb arbeitete er fortan im City Disc, wo er dann auch eine Lehre zum Plattenverkäufer abschloss.

Irgendwann kam Sigi erstmals mit farbverschmierten Händen nach Hause. Er hatte das Sprayen für sich entdeckt und investierte von Beginn weg alles in seine Berufung. Für den Basler Fotografen Onorio Mansutti durfte Dare 1990 das Medienhaus an der Schifflände, die ehemalige Heimstätte von Radio Basilisk, farbig gestalten. «Sigi kam nach Hause und sagte, dass er 3’500 Franken dafür bekomme.» Es war sein allererster Auftrag.

Eine Woche später machte sich der junge Sprayer selbständig und sein Hobby somit zum Beruf. Drei Monate «Armensüppli» versprach ihm seine Mutter, für den Fall, dass der Schritt in die Selbständigkeit nicht erfolgreich sein würde. Während Dare sich mit verschiedensten Aufträgen seine Existenz aufbaute, ging er auch fleissig illegal üben. «In der Stadt schmieren und taggen durfte er nicht. Historische Gebäude und Privathäuser waren tabu.» Seine Mutter, die seinen Weg von Beginn an unterstützte, trug ihm klare Regeln auf. Das Eigentum anderer Leute respektierte er stets. In der Innenstadt hinterliess er dennoch ab und an seine Spuren – jedoch unter anderen Alias-Namen.

«Nicht viele haben mit nur 41 Jahren derart viel erlebt wie mein Sohn»
Yvette Amann hat sämtliche Skizzen und Sketches seines Sohnes archiviert und kuratiert. Auch diejenigen, die er mit einem anderen Aliasnamen gemalt hat. Hier im Bild: Coxes-Skizzen. Bild: Lea Meister

Von der Wand auf die Leinwand

Anfang der 90er-Jahre entdeckte Dare in der Leinwand einen neuen Untergrund für seine Kunst, malte bald hauptsächlich mit Pinsel. «Für Sigi war Graffiti vergänglich, es gehörte auf die Strasse. Er suchte deshalb nach einer Form, die das erreichen könnte, was grosse Künstler schon geschafft haben», so Amann.

«Nicht viele haben mit nur 41 Jahren derart viel erlebt wie mein Sohn»
Eine von Dares ersten Leinwänden anno 1993. Der Titel: Future. Ob Dare dort schon wusste, dass Leinwände ein wichtiger Bestandteil seiner Kunst werden würden?Bild: zvg

Die grosse Frage war also: Weshalb sollte ein sogenannter Graffiti-Writer nicht auch Grosses und Bleibendes erreichen können? Dare wollte Graffiti salon- und museumsfähig machen, was ihm Gegner und Neider einbrachte. «Dass er Feinde hatte, habe ich nur gespürt, wenn er sauer nach Hause kam, weil jemand eines seiner Bilder übermalt hatte», erzählt Amann.

Nicht nur Dares Streben nach mehr Salonfähigkeit der Kunstrichtung Graffiti, auch seine für die damalige Zeit eher untypische Art brachten ihm Kritik ein. Im neu aufkeimenden Zeitalter des Hip Hops interessierte er sich nicht für die aus Amerika importierte Musikrichtung. Er hörte lieber Rock oder Pop und wurde «Heavy Dare» genannt, nicht zuletzt seiner langen Haare wegen. Auch für blöde Sprüche sorgte die Tatsache, dass er keinen Alkohol trank und keine Drogen konsumierte.

Dass die Grundlage dessen ein gesundheitliches Problem in seinen Teenagerjahren war, wussten damals nur die wenigsten. Zwei Jahre lang war er auf starke Medikamente angewiesen und wurde von Ärzten immer wieder darauf hingewiesen, dass er keinen Alkohol trinken dürfe.

«Nicht viele haben mit nur 41 Jahren derart viel erlebt wie mein Sohn»
Amanns Wohnung in Bottmingen gleicht einer kleinen Galerie. Überall tauchen Schätze ihres Sohnes auf. Bild: Lea Meister

Neben zahlreichen Sell-Out-Vorwürfen aufgrund seiner Auftragsarbeiten erfuhr Dare auch viel Neid. Die negativen Stimmen verstummten aber immer mehr, denn der Respekt vor ihm und seinem Schaffen wuchs kontinuierlich.

«Maman, j’ai besoin de l’argent…»

In seiner Mutter hatte Dare eine treue Wegbegleiterin gefunden. Sie hielt ihm nicht nur stets den Rücken frei, sondern machte auch seine Buchhaltung und bot Freunden aus der ganzen Welt ein Dach über dem Kopf an, wenn diese in Basel zu Besuch waren. Er war einer der ersten Sprayer mit einem weltweiten Netzwerk, welches er auch für Ausstellungen nutzte.

Fasste er einen Auftrag, teilte er die Einnahmen stets unter allen Beteiligten auf, auch wenn er die ganze Vorarbeit gemacht und die Materialien beschafft hatte. Seine Mutter konnte das nicht immer nachvollziehen, bringt es aber klar mit seinem Charakter in Verbindung: «Er hat immer gesagt, es sei ihm egal, der andere habe ja auch nicht viel. So war er eben.»

«Nicht viele haben mit nur 41 Jahren derart viel erlebt wie mein Sohn»
Im Atelier der Mutter von Dare wird klar, dass die Kreativität in der Familie liegt. Nicht nur Amann selbst malt, auch ihr Grossvater war ein bekannter Maler. Bild: Lea Meister

Für brenzlige Situationen hatten Dare und seine Mutter eine Codesprache, damit sie kommunizieren konnten, ohne dass sein Stiefvater mitbekam, was wirklich Sache war. Dare sang dann auf Französisch, wenn er nach Hause kam: «Maman, j’ai besoin de l’argent…», beispielsweise, «Mama, ich brauche Geld…», wenn eine Anzeige wegen Sachbeschädigung ins Haus zu flattern drohte. Wenn Amann heute darüber spricht, muss sie schmunzeln.

Auf das «Armensüppli» seiner Mutter musste Dare schliesslich nie zurückgreifen, denn die Aufträge kamen zahlreich bei ihm an. Auf das Bühnenbild für das Béjart Ballett in Lausanne folgte die Bemalung des Theater-Trams im Auftrag der Migros anno 1995. Das bemalte Tram löste die ersten nationalen Zeitungsberichte und Auftritte im Schweizer Fernsehen aus. International gestaltete Dare Wände und Geschäfte in Städten wie Los Angeles, New York, Hamburg, Paris oder Barcelona. 2001 lernte er in der Schweizer Botschaft in London Banksy kennen und die beiden stellten ein Jahr später mit anderen Kunstschaffenden gemeinsam in Hamburg aus.

«Etwas wagen, sich etwas trauen»

Den wohl grössten und bekanntesten Auftrag brachte ihm der Kunstsammler und «Playboy» Gunter Sachs ein. 2007 gestaltete Dare zusammen mit seinem Freund Ata Bozaci, alias Toast, das über 200 Quadratmeter grosse Apartment von Sachs im Schloss Velden am Wörthersee. Im gleichen Jahr präsentierte er auf der Baselworld eine Uhrenkollektion der Marke Pierre DeRoche mit handbemalten Ziffernblättern.

Im April 2009, etwas weniger als ein Jahr vor seinem Tod, wurde er von Kurt Aeschbacher in dessen Sendung eingeladen, um seinen Weg vom illegalen Sprayer hin zum anerkannten Künstler erklären zu können.

«Etwas wagen, sich etwas trauen», erläuterte Sigi von Koeding bei Aeschbacher seinen Namen Dare vor einem grossen Publikum, für welches Graffiti ein wohl eher unbekanntes Terrain darstellte. Mit dem Schritt in die Selbständigkeit sei er damals auf jeden Fall ein Wagnis eingegangen. Er habe an Graffiti festgehalten, weil es das Einzige sei, was er wirklich gut könne. Bis heute hängen geblieben ist seine ganz eigene Herangehensweise an 3-D-Effekte in der Graffitikunst. Im Gegensatz zu Werken der Expressionisten des frühen 20. Jahrhunderts waren seine Leinwände nicht visuell-figurativ, sondern grafisch-abstrakt.

Er schaffte es also, Selbstporträts mit gemalten Worten entstehen zu lassen. Dabei schreckte er auch vor Experimenten nicht zurück: «Einmal kam er zu mir ins Büro und fragte, ob er den Kopierer benutzen dürfe», erinnert sich Amann. Er habe eine Skizze aufgelegt und sie während des Kopiervorgangs hin und her bewegt, um die Buchstaben in Bewegung zu versetzen. Um etwas Neues zu erschaffen.

«One of the best examples of interior graffiti»

Am 6. März 2010 verstarb Sigi von Koeding in Basel an den Folgen eines Hirntumors. Sein Tod war ein herber Schlag für seine Familie – auch für die Graffiti-Familie. «Sigi wurde aus seinem täglichen Leben in seiner riesigen Vernetzung rausgerissen», sagt Amann und erzählt davon, wie schwierig es für sie, aber auch für seine engsten Freunde und Wegbegleiter gewesen sein muss, ihn so jung zu verlieren. «Sigi hätte noch länger auf dieser Welt sein dürfen. Es können aber nicht viele behaupten, mit 41 schon so viel erlebt zu haben.»

«Nicht viele haben mit nur 41 Jahren derart viel erlebt wie mein Sohn»
Die Trauer um Dare nach seinem Tod 2010 war gross. In Basel wurden ihm zu Ehren Blumen und Kerzen an der Line unter einem seiner Bilder platziert. Bild: zvg

2011 wurde seine Auftragsarbeit für Gunter Sachs posthum von der Financial Times als «one of the best examples of interior graffiti» eingeordnet. Bis heute beeinflusst Dares Schaffen die Graffiti-Szene, die über die Jahrzehnte immer grösser geworden ist.

Das Archivieren und Kuratieren aller Arbeiten ihres Sohnes hat seine Mutter übernommen und 2016 ein Buch über sein Schaffen herausgebracht. Noch immer steht sie in Kontakt zu Freunden von damals, noch immer kümmert sie sich darum, das materielle und immaterielle Vermächtnis ihres Sohnes weiterzutragen. «Ich bin da in eine Welt eingetaucht – Sigi wäre stolz auf mich.»

Zurück in der Bronx. Dare und die beiden Jungs haben fertig gemalt. Zusammen, mit einem gemeinsamen Farbkonzept. Das Wandbild wird mit der Zeit der Witterung und der Vergänglichkeit zum Opfer fallen. Nicht so die Erinnerung, die bleibt den beiden Nachwuchs-Sprayern für immer.

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