
Polit-Expertin nach Bundestagswahl: «Die grosse Koalition muss dieses Experiment wagen»
Baseljetzt
Deutschland hat gewählt. Friedrich Merz wird voraussichtlich Kanzler und Union und SPD dürften zusammen regieren. Politikwissenschaftlerin Stefanie Bailer analysiert das Wahlergebnis und ordnet ein, wie es bei unserem grossen Nachbarn nun weitergeht.
Die CDU/CSU ist Wahlsiegerin, gefolgt von der Rechtsaussen-Partei AfD. Diese kommt auf rund 20 Prozent Stimmenanteil und profitiert von einem gespaltenen Deutschland. Die SPD stürzt ab und ist keine Volkspartei mehr. Trotzdem wird sie wohl mit der Union aus CDU/CSU die nächste Regierung bilden, mit Friedrich Merz als Kanzler.
Was bedeuten diese Wahlergebnisse für Deutschland? Und wie geht es nun weiter? Die Politikwissenschaftlerin Stefanie Bailer von der Universität Basel ordnet im Interview mit Telebasel ein. Bailer war zu Gast in der Sendung «Punkt6 Thema».
David Sieber (Telebasel): Frau Bailer, 82,5 Prozent Wahlbeteiligung, das gab es in Deutschland seit Jahrzehnten, seit der Wende, nicht mehr. Ist das ein Zeichen, dass es da wirklich um eine Schicksalswahl ging?
Stefanie Bailer: Es ist auf jeden Fall recht spektakulär. Wir hatten noch nie so unpopuläre Kanzlerkandidat:innen und trotzdem gingen die Menschen wählen. Das ist vor allem der AfD zu verdanken, im Positiven wie im Negativen.
Denn einerseits hat die AfD sehr viele Nichtwähler:innen mobilisiert, aber sie hat auch gegenmobilisiert. Dadurch, dass Friedrich Merz von der CDU diese Brandmauer gegen die AfD mit einer symbolischen Abstimmung eingerissen hat, haben sich sehr viele Menschen mobilisiert, haben demonstriert, um eben zu zeigen: Nicht weiter soll es mit der AfD gehen, als es überhaupt jetzt schon gegangen ist.
Ganz interessant ist auch, dass viele junge Männer die AfD gewählt haben. Viele junge Frauen wählten eher links, sogar die Partei Die Linke, die ja mit einem guten Resultat auch wieder im Bundestag vertreten ist. Wie ist diese totale Polarisierung zu erklären?
Das ist ein ähnliches Verhalten wie jetzt auch bei den US-Wahlen. Da sahen wir genau das auch: Dass junge Männer eher nach rechts tendieren, vor allem in ländlichen Gebieten, während junge Frauen deutlich mehr zur Linken hin wechselten.
Hat Sie irgendetwas am Resultat überrascht? Die CDU und die CSU haben eigentlich nicht wahnsinnig stark zugelegt, dafür die AfD sehr stark. Und die SPD hat vor allem stark verloren. Ist das alles in den Erwartungen oder gibt es eine Überraschung?
Überrascht hat es nicht, weil die Prognosen dieses Mal extrem präzise waren. Spannend war die Frage, wie viele von den kleinen Parteien in den Bundestag einziehen. Eigentlich wäre es wünschenswert gewesen, dass FDP und BSW reinkommen, damit diese Wähler vertreten sind.
Dadurch, dass diese beiden Parteien an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert sind, haben wir nun 14 bis 15 Prozent der Wähler, die nicht im Parlament vertreten sind, was bedenklich ist. Es hat aber dazu geführt, dass die Koalitionsbildung jetzt mit der grossen Koalition einfacher ist. Das ist wünschenswert, weil man sich mit der grossen Koalition ein stärkeres Bollwerk gegen die AfD erhofft. Es ist keine Dreierkoalition mehr. Die ideologische Distanz ist näher als bei der Ampelkoalition. Man hofft dadurch eher, etwas bewegen zu können, auch bei der Migrationspolitik und bei der Wirtschaftspolitik.
Sie sagen, die ideologische Grenze ist näher zwischen SPD und CDU. Und das, obwohl Friedrich Merz deutlich nach rechts gerückt ist, sich sogar noch mokierte über die Linken, die auf die Strasse gegangen sind? Und obwohl die SPD sich jetzt selbst neu erfinden muss, nachdem Olaf Scholz derart gescheitert war?
Die SPD ist mit ihren 16 Prozent keine Volkspartei mehr. So ein schlechtes Ergebnis hatte sie noch nie. Aber die ideologische Distanz zwischen CDU und SPD ist kleiner, als wenn sie jetzt noch eine dritte Partei dazu genommen hätten wie die Grünen oder die FDP. Das wäre noch mal schwieriger geworden. Und dieses Scheitern solch einer Dreierkoalition auf nationaler Ebene hat ja gezeigt, dass die Ampel ein extrem anspruchsvolles Experiment war.
Bleiben wir gerade noch bei der mutmasslichen Koalition, die es geben wird, also schwarz-rot. Wird sie es schaffen, Deutschland aus dieser Agonie herauszuführen?
Wenn Union und SPD sich anstrengen. Sie beide wollen regieren und beide haben einen grossen Handlungstatendrang, vor allem die CDU und CSU. Es gibt ein paar offensichtliche Stolpersteine. Das sind vor allem die Schuldenbremse und die Staatsausgaben. Aber auch die SPD hat gezeigt, dass sie bei Migration deutliche Schritte macht. Die SPD hat vergangenen Herbst die Grenzkontrollen eingeführt. Die Union und die SPD sind gar nicht so weit auseinander. Viel war jetzt auch Wahlkampfrhetorik. Die war deftig. Aber wenn man dann zusammen regieren muss, kann man sich da auch wieder koordinieren. Das haben die in der Vergangenheit schon ein paar Mal gemacht und da sind sie Profis.
Kommen wir zur AfD. Sie kommt nun auf 20,8 Prozent, hat über 10 Prozent zugelegt. Damit ist sie unangefochten die Nummer 2 im Bundestag. Und sie hat eigentlich den ganzen Osten «erobert», wenn man so sagen will. Es gibt eine Trennung wie zu Zeiten der DDR und der BRD. Zerfällt das Land? Und wie ist es möglich, dass eine derart rechte Partei im Osten so durchmarschiert?
Aber auch im Westen, in den alten Bundesländern, hat die AfD zugelegt. Kann man daraus schliessen, dass die Deutschen ihre Geschichte vergessen haben? Haben sie ihre Vergangenheit vergessen oder wollen sie hinter sich lassen?
Je länger her, desto schwieriger. Diese Ausländerfeindlichkeit ist der hauptsächliche Faktor, der die Leute zur AfD bringt. Und für manche ist das wirklich schon sehr lange her, das stimmt schon. Und deshalb fühlen sie sich bei der AfD vertreten.
Was auch noch auffällt: Im Wahlkampf ging es vor allem um die Wirtschaft und fast noch mehr um die Migration. Kaum aber um die geopolitische Lage. Kaum um Putin, Trump und die Ukraine. Und wenn, dann äusserten sich die Rechten Putin-freundlich. Warum war die Geopolitik kein Thema?
Generell hat Aussenpolitik selten Einfluss auf nationale Wahlen.
Aber so nah war der Krieg ja seit sehr langer Zeit nicht mehr.
Der Krieg in der Ukraine wurde kaum noch thematisiert. An den hatte man sich leider schon gewöhnt. Der hat bedauerlicherweise nicht mehr so mobilisiert.
Und die Situation in den USA, die ist so verwirrend, dass sie eher dazu noch vielleicht geführt hat, dass man eine stabile Regierung will. Aber die Ereignisse – und das ist ja die Trump-Strategie – so stark und so schnell zu pushen, hat wahrscheinlich auch manche:n Wähler:in überfordert. Und dass mal ein aussenpolitisches Thema entscheidend ist für einen Wahlentscheid, hat man ganz, ganz selten.
Also sogar, wenn der Krieg so nah ist … Auch Klimapolitik war kaum ein Thema, was eigentlich auch überrascht.
Ja, aber das ist bei der Klimapolitik immer so, wenn es der Wirtschaft schlecht geht. Wir haben jetzt im dritten Jahr in Folge eine sinkende Wirtschaftsleistung in Deutschland. Und das bewegt die Leute mehr. Inflation, Preise …
Und dann ist da noch die Situation mit den Ausländern. Es gab während des Wahlkampfs Attentate und Angriffe. Das hat die Leute extrem bewegt. Da hat das Thema Klima dann keine grosse Chance mehr. Das ist ja auch ein globales oder europaweites Phänomen, das Klima im Moment nicht mehr stark zieht.
Noch ein Wort zum baldigen Bundeskanzler Merz kann man ja fast schon sagen. Vor mehreren Jahren wäre es undenkbar gewesen, dass er es so weit geschafft hat. Er war in der CDU schon eine Art Ausgestossener, ein Gegner von Merkel und auf dem Abstellgleis. Nun wird er bald die Geschicke des wichtigsten Landes Europas führen. Trauen Sie ihm das zu?
Ja. Es ist ja nicht so, dass die anderen Kanzlerkandidat:innen eine Strahlkraft gehabt hätten. Also Deutschland ist bekannt dafür, dass es eher durchschnittliche Politikerleistungen hat, die dann eingebunden in Koalitionen regieren. Und sein Vorgänger Olaf Scholz war auch in vielen Faktoren überhaupt nicht leistungsstark. Also, er zeigte charakterlich Schwächen. Er zeigte keine Führungskraft gegenüber seinen Ministern. Also da gab es viele Fehler und so gute Vorbilder hat Merz ja gar nicht. Er hat Ausdauer bewiesen. Er ist dabei geblieben.
Er ging auch in die Wirtschaft und ist wieder zurück in die Politik gekommen. Und das haben nicht viele gezeigt. Also, er hat halt viel Ausdauer. Und jetzt hat er lange genug gewartet und kann mit 69 Jahren nochmal eine Runde drehen und zeigen, dass er wirklich regieren kann. Das ist schon erstaunlich.

Und wird es Friedrich Merz gelingen, die AfD kleiner zu machen oder auf Distanz zu halten?
Das ist das grosse Experiment. Generell ist es ja so: Wenn sich die rechten Parteien zu sehr an die AfD und die Rechtsextremen heranpirschen, dann profitieren immer die Rechtsextremen. Das zeigt jetzt die ganze Forschung. Merz wäre jetzt einer der Ersten, die das vielleicht schaffen. Dieses Experiment muss jetzt diese grosse Koalition wagen, dass sie mit dem Thema Migration und Asyl umgeht, Gesetze erlässt, um der Bevölkerung eine Lösung anzubieten. Neben vielen anderen Baustellen.
(daf)
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