Theologe Kosch: «Diese Struktur ist von Natur aus anfällig für den Missbrauch von Macht»
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Katholische Kirche
Schweiz

Theologe Kosch: «Diese Struktur ist von Natur aus anfällig für den Missbrauch von Macht»

17.09.2023 07:18 - update 17.09.2023 12:59
Larissa Bucher

Larissa Bucher

Eine Pilotstudie der Universität Zürich liefert klare Zahlen zu den Fällen von sexuellem Missbrauch in der römisch-katholischen Kirche. Die Ergebnisse schockieren. Eine Einschätzung des Theologen Daniel Kosch.

Historiker:innen durchleuchteten in einer neuen Studie die Archive der römisch-katholischen Kirche, insbesondere im Hinblick auf sexuelle Übergriffe und Persönlichkeitsverletzungen. Die Wissenschaftler:innen konnten in einer Zeitspanne zwischen 1950 und heute insgesamt 1002 Missbrauchsfälle identifizieren. Dabei handelt es sich bei drei Vierteln der Opfer um Minderjährige. Besonders besorgniserregend ist, dass die meisten Fälle bisher weder aufgeklärt noch angemessen verfolgt wurden – viel mehr wurden sie systematisch verschwiegen und vertuscht.

Daniel Kosch ist Theologe und war 20 Jahre lang Generalsekretär der Schweizer Römisch-Katholischen Zentralkonferenz (RKZ). Im Interview mit Baseljetzt äussert er sich zu den Studienergebnissen und schätzt sie ein.

Theologe Kosch: «Diese Struktur ist von Natur aus anfällig für den Missbrauch von Macht»
Bild: Keystone

Baseljetzt: Was sagen Sie zu den aufgedeckten Missbräuchen in der römisch-katholischen Kirche?

Daniel Kosch: Es ist ein erschreckender, beschämender Befund. Generell sind Beziehungen, die von starker Abhängigkeit und aufgeladener Symbolik geprägt sind, anfällig für Machtmissbrauch, Übergriffe und Persönlichkeitsverletzungen, nicht nur in der Kirche, sondern auch im Sport oder in der Kultur. Ein überhöhtes priesterliches Rollenverständnis steigert das Risiko zusätzlich. Die vorliegende Studie unterstreicht erneut die dringende Notwendigkeit eines tiefen Mentalitätswandels.

Das ist alles längst bekannt. Was bringt da eine weitere Studie für die Schweiz?

Leider ist die Schweiz keine Ausnahme, wenn es um Fälle von Missbrauch in der katholischen Kirche geht. Die Studienergebnisse waren, so traurig es auch ist, vorhersehbar. Dennoch provozieren sie ein notwendiges Aufwachen. Es ist ein schmerzhafter, aber äusserst wichtiger Realitätscheck. Ich bin froh, dass die katholische Kirche nun über eine solide Informationsgrundlage verfügt, auf der sie aufbauen kann, um dieses Problem anzugehen. In Bezug auf das Bewusstsein für diese Problematiken hat sie auf gesamtschweizerischer Ebene bisher nicht angemessen reagiert, doch es gibt Anzeichen dafür, dass sie jetzt aufholt.

Wie konnte es überhaupt dazu kommen, dass diese Fälle so lange systematisch vertuscht wurden?

Man muss hier zwei Phasen unterscheiden: Bis zur Jahrtausendwende war die Problematik dess Missbrauchs in unserer Gesellschaft zwar präsent, aber dass die katholische Kirche davon ganz besonders betroffen ist, war nicht im Bewusstsein. Eine Kultur des Schweigens dominierte. Obwohl sexuelle Übergriffe klar als schweres Unrecht wahrgenommen wurden, wurde wenig unternommen. Im Wesentlichen wurden die Täter als Einzelfälle wahrgenommen und oft geschützt, die Opfer wurden kalt und mit Skepsis behandelt. Das geschlossene und hierarchische System der Kirche verhinderte, dass das Thema nach aussen dringt. Dies hatte zur Folge, dass die katholische Kirche sich des grundsätzlichen Problems im Vergleich mit anderen Institutionen erst mit Verspätung bewusst wurde.

Die zweite Phase begann nach der Jahrtausendwende. Viele Enthüllungen und Skandale in anderen Ländern zeigten, dass die katholische Kirche im Bereich der Aufdeckung und der Verhinderung von Missbrauch versagt hatte – mit katastrophalen Folgen für die Betroffenen. In der Schweiz begann die Auseinandersetzung mit dem Thema in einzelnen Ordensgemeinschaften und Bistümern, aber es fehlte lange am Willen, das Problem auf nationaler Ebene umfassend und ernsthaft anzugehen und dafür die nötigen Ressourcen bereitzustellen. Dies musste nun dringend nachgeholt werden. Dass die Kirche die Studie in Auftrag gab, machte deutlich: Es darf nicht länger akzeptiert werden, dass die Schweizer Kirche in dieser Problematik um 20 Jahre hinterherhinkt.

Die römisch-katholische Kirche verfügt über ein eigenes Rechtssystem und Recht (Kirchenrecht). Welche Rolle spielt das bei der Vertuschung der Missbräuche?

Ja, es existiert das Kirchenrecht, jedoch unterliegt die Kirche auch den staatlichen Gesetzen und anerkennt diese auch. Es gab gemäss der Untersuchung schon in den 50er-Jahren Fälle, die zur Anzeige und Bestrafung der Täter durch die staatliche Justiz führten. Dennoch ist mit dem eigenen Rechtssystem die Versuchung verbunden, Angelegenheiten intern zu regeln, anstatt sie den staatlichen Ermittlungsbehörden zu übergeben. Man suchte also nicht systematisch und aktiv die Mitarbeit des Rechtsstaats. Diese Vorgehensweise ist inakzeptabel und die Veröffentlichung der Studie ist diesbezüglich hoffentlich eine Zäsur: Am staatlichen Recht führt im Missbrauchskontext kein Weg vorbei, schon gar nicht für eine Kirche, die auf ihre öffentlich-rechtliche Anerkennung stolz ist.

Was ist das Kirchenrecht?

Die römisch-katholische Kirche verfügt über ein eigenes Rechtssystem und Recht. Die Autoritäten setzen sich aus dem Papst, den Bischöfen und den Pfarrern zusammen. Dieses Kirchenrecht oder auch kanonisches Recht regelt die kirchlichen Organisationsstrukturen, Zuständigkeiten und alle weiteren Sachverhalte. So können Kirchen ihre eigenen internen Regelungen erstellen und diese befolgen, solange sie die grundlegenden Rechte und Freiheiten in der Bundesverfassung nicht verletzen. (lab)

Es ist nicht das erste Mal, dass Missbrauchs-Fälle in der römisch-katholischen Kirche auffliegen. Ist die Schmerzensgrenze nun erreicht und es wird endlich gehandelt?

Es ist dringend erforderlich, neue Strukturen und eine erhöhte Professionalisierung zu etablieren. Hierbei denke ich an Massnahmen im Hinblick auf das Personal, die Verwaltung von Akten sowie die Implementierung einer unabhängigen Meldestelle. Ich bin überzeugt, dass diese Studie bei allen Beteiligten nicht nur zum Nachdenken anregt, sondern vor allem zur Umsetzung von konkreten Massnahmen. Den Worten der Betroffenheit müssen nun rasch Taten folgen.

Die Studie hat systematische Fehler aufgezeigt. Was muss nun unternommen, um diese zu beheben?

Die grösste Herausforderung wird sein, das Kirchensystem zu reformieren. Beispielsweise verfügen die Bischöfe oder der Papst über eine extrem starke Machtposition und entscheiden am Ende alles allein. Diese Struktur ist von Natur aus anfällig für den Missbrauch von Macht. Hier muss eine gründliche Überprüfung und Veränderung der Strukturen und des Systems erfolgen. Es ist notwendig, ein zeitgemässes und transparentes Modell für die höchste Führungsebene der römisch-katholischen Kirche zu entwickeln. Beispielsweise ist es inakzeptabel, dass ein Bischof nach seinem Tod die Vernichtung aller Akten und Informationen aus seinem Büro anordnen kann, oder dass der Papst allein entscheidet, ob die Archive in Rom der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Hier braucht es dringend Teilung und Kontrolle von Macht sowie Transparenz und Rechenschaftspflicht aller Verantwortlichen, wie es sie im Rechtsstaat gibt.

Und wie sieht das in der Schweiz aus?

In der Schweiz verfügt die Kirche aufgrund ihrer öffentlich-rechtlichen Anerkennung durch den Staat über demokratische Strukturen. Dies bietet eine grosse Chance, da es zu einer Gewaltenteilung in der Führung führt. Zudem erweist sich die Kirche somit als Teil der Gesellschaft und nicht als von ihr getrennt. Die Möglichkeiten, die sich aus der staatlichen Anerkennung und demokratischen Kontrolle ergeben, müssen nun konsequent angewendet werden, und die Behörden müssen eine aktive Rolle spielen: Sie entscheiden bei der Auswahl und Anstellung von Mitarbeitenden mit, haben als Arbeitgeberinnen eine Aufsichtspflicht, und sie können Steuergelder für Prävention, die nötige Sensibilisierung für das Thema Missbrauch und auch für die Unterstützung von Missbrauchsbetroffenen einsetzen. Diese Instrumente der Mitverantwortung verpflichten zum konsequenten Handeln.

50-jähriges Jubiläum der öffentlich-rechtlichen Anerkennung

Am vergangenen Montag feierte die Römisch-Katholischen Kirche in Basel-Stadt das 50-jährige Jubiläum der öffentlich-rechtlichen Anerkennung.

Was bedeutet das genau? In der Schweiz gibt es keine offizielle Staatskirche, aber die Verfassung gewährt den religiösen Gemeinschaften bestimmte rechtliche und finanzielle Privilegien. Die öffentlich-rechtliche Anerkennung ermöglicht es diesen Gemeinschaften, Kirchensteuern von ihren Mitgliedern zu erheben, um ihre Kirchen zu finanzieren. (lab)

Können Sie begründen, weshalb gerade die römisch-katholische Kirche so anfällig auf Missbräuche ist?

Die Priester wurden traditionell fast als eine Art Halbgötter verehrt, die sehr viel Vertrauen genossen. Vielfach bestimmten zudem Abhängigkeiten, emotionale Bindungen, religiöse Vorstellungen die Beziehungen der Gläubigen zu ihnen. Das erlaubte es, von den Gläubigen, besonders solchen, die selbst keine starke Stellung haben wie z.B. Kinder oder junge Erwachsene, bedingungslosen Gehorsam zu erwarten und ihre Machtposition zu missbrauchen.

Welche Rolle spielen dabei der Zölibat und das Verhältnis der Kirche zur Sexualität?

Ein weiterer relevanter Aspekt ist, dass diese Machtpositionen zusammen mit dem Zölibat und einer strengen Sexualmoral unreife Männer anzieht, die sich in Bezug auf ihre eigene Sexualität unsicher fühlen. Diese Männer leben ihre verbotenen Neigungen dann heimlich aus und finden Wege, dies zu tun, ohne entdeckt zu werden. Dass die katholische Sexualmoral sämtliche Formen von Sexualität ausserhalb der Ehe kategorisch verbietet, erweist sich insofern als fatal, als damit viel zu wenig zwischen verschiedenen Lebensformen und Verhaltensweisen differenziert wird. Dass Priester, die Kinder missbraucht haben, im Amt bleiben konnten, aber solche, die sich in eine erwachsene Frau verliebten und heirateten, ihr Amt aufgeben mussten, zeigt, dass hier grundsätzlich etwas nicht stimmt.

Ist die Kirche als Institution nicht grundsätzlich veraltet?

Ich bin persönlich davon überzeugt, dass die Kirche trotz aller Herausforderungen eine wichtige Institution ist, die Werte und Prinzipien vertritt, die in unserer Gesellschaft von grosser Bedeutung sind. Ihre Botschaft der Freiheit, der Liebe und der Gerechtigkeit ist nach wie vor aktuell. Dennoch, bzw. gerade deshalb ist es unerlässlich, dass die Kirche sich kontinuierlich verändert, erneuert und sich selbst immer wieder kritisch hinterfragt, ob sie ihrem eigenen Auftrag gerecht wird.

Fällt es Ihnen bei solchen Schlagzeilen nicht schwer, selbst noch für die römisch-katholische Kirche einzustehen?

Ich habe mich mein ganzes Arbeitsleben für die Kirche engagiert. Die jetzt veröffentlichte Studie ist natürlich ein Tiefpunkt. Aber zugleich betrachte ich den eingeschlagenen Weg als Chance für eine neue Phase im Prozess des Wandels. Mir ist bewusst, dass der Weg zu echter Erneuerung lang und schwierig sein wird. Dennoch ist es jetzt entscheidend, sich der Krise zu stellen und Veränderungen herbeizuführen, was mir sehr am Herzen liegt. Ich setze mich dafür ein, dass aus diesen Erkenntnissen Lehren gezogen werden. Ich habe mich entschieden, den Weg mit der römisch-katholischen Kirche weiterzugehen, verbunden in der Grundüberzeugung, aber kritisch in Bezug auf die aktuellen Strukturen, die nicht nur den Missbrauch von Macht zulassen, sondern auch den Frauen den Zugang zu kirchlichen Ämtern verwehren.

Der Imageschaden für die römisch-katholische Kirche ist gross. Wie geht es jetzt weiter?

Der Imageschaden ist nicht neu – leider. In den vergangenen Jahrzehnten haben wir als Kirche viele Krisen erlebt, viel Glaubwürdigkeit verspielt. Es ist zu erwarten, dass auch jetzt wieder viele Fragen aufkommen und schwierige Diskussionen geführt werden. Ich rechne auch damit, dass es zu weiteren Kirchenaustritten kommen wird. Aber gibt es auch Menschen, die dies als «Stunde Null» für die Kirche betrachten, nach der etwas Neues in Gang kommen muss und kommen kann. Es wäre schlimm, diese ein weiteres Mal zu enttäuschen. Gemeinsam mit solchen Menschen möchte ich gerne Teil der Lösung sein.

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