Wenn junge Menschen Emotionen in Texten verarbeiten können
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Buch Basel
Basel-Stadt

Wenn junge Menschen Emotionen in Texten verarbeiten können

17.11.2023 18:40 - update 17.11.2023 18:44

Ann Weber

An der Buch Basel kommt auch der literarische Nachwuchs zu Wort und bringt die eigene Gefühlswelt zu Papier. Die mit der Autorin Mina Hava erarbeiteten Texte wurden am Freitag im Volkshaus präsentiert.

Hier eine Alliteration – dort ein Euphemismus. So oder so ähnlich dürfte der Deutschunterricht «in Action» geklungen haben. Im Rahmen des Projekts «Schreibwerkstatt» haben Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums und der FMS Liestal Texte für Buch Basel verfasst.

An die Hand genommen wurden die vielleicht zukünftigen Autor:innen von Mina Hava. Die Autorin von «Für Seka», einer bosnisch-schweizerischen Familiengeschichte, unterstützte die Schülerinnen und Schüler bei der Umsetzung ihres literarischen Projekts.

Textworkshop fasziniert

An den Deutschunterricht hat manch einer keine guten Erinnerungen. Endlose Diskussionen ohne Richtig und Falsch und die Auseinandersetzung mit schon längst verstorbenen Autor:innen sind nunmal nicht jedermanns Sache. Hannes Veraguth, Lehrer am Gymnasium Oberwil, ist deshalb vom Mehrwert des Workshops überzeugt: «Die Autorin ist eine lebende und keine tote Dichterin, mit der man sonst oft im Unterricht zu tun hat. Sie ist ein Vorbild.»

Auch Anna, 17 Jahre alt und Teilnehmerin des Workshops, findet, dass dieser Textkurs etwas Besonderes ist: «Im Unterricht ist es meistens so, dass man Aufträge bekommt und dann darüber schreibt, was natürlich auch eine gute Übung ist. Aber ich finde, dass es gerade für junge Leute wichtig ist, Emotionen durch Texte verarbeiten zu können.»

Aus dem Workshop sind 18 Texte entstanden. Im Zuge der Buch Basel wurden diese am Freitag von 15:00-16:00 Uhr im Volkshaus von den Schüler:innen vorgetragen.

Wir zeigen euch hier drei Text-Beispiele, die im Workshop entstanden sind:

Dazwischen

Herbstregenwetter. Post-Regen, es ist kalt und die Luft riecht nach Leben. Die Sonne scheint, Oktober wird zu Mai, die Jahreszeiten kommen immer wieder. Niemand weiss, ob es frühlingt oder herbstet, die Winterschläfer stecken ihre Nasen aus dem Unterschlupf und blinzeln in die neue Sonne. März, November, April, September. Die Zwischenmonate verschwimmen, werden zu einem einzigen Dazwischen. In diesem Moment, nasse Strassen, die helle Morgensonne im Gesicht, der Atem, der leichte Wölkchen bildet. Ich stehe still. Stehe still in einem Moment, aber weiss nicht mehr, ob er gestern oder vor fünfzig Jahren war. Ich stehe still bei uns. Neben uns. Hinter uns, komm nicht weg, nicht voran, nicht weiter. Ich klebe fest in der Kälte, in dem Moment zwischen Mai und November. Zwischen «Uns» und «du und ich». Ich bin der Nebel, der an Märzmorgen die Felder bedeckt, sich im Laufe des Jahres verflüchtigt, um im September zurückzukehren. Wir waren der Sommer, vor einiger Zeit, und dann, als der Sommer wirklich kam, waren wir doch nicht. Was «wir» werden, was aus «Uns» wird, weiss ich nicht. Seit es «Uns» gibt, bewegen wir uns im Nebel, der jetzt noch undurchsichtig erscheint. Wir wissen nicht, ob es das Ende oder der Anfang ist. Wir stehen an einer Kreuzung, auf dem nassen Boden, ich weiss nicht, ob ich dir folgen soll. Will ich, dass du gehst? Nein, bleib, wärm mich auf, ich glaube, es ist Herbst. Oder Frühling. Ich glaube, du bist Herbst. Und ich Frühling.

Annina Cantoni

Der Blaubeerbär

Der Blaubeerbär wohnt im Weinbeerwald. Eine Umgebung, die den Wunsch erweckt, Wörter wie Quacksalber und Kriechtier ganz genau auszusprechen, um alles bei seinem bestimmten Namen zu nennen, da wird man selbst zum Quacksalber. 

Der Blaubeerbär ist es jedenfalls nicht. Den ganzen Tag verbringt er damit, Dinge beim falschen Namen zu nennen. Bis sie sich in ihre neue Identität bekennen. 

Die Namen stiehlt er aus den Seiten der grossen Geschichten, poliert und sortiert sie in seinem Mundwerk. 

Der Blaubeerbär reicht sie weiter, weist ihnen mehr Bedeutung zu, schenkt ihnen einen neuen Träger.

Der Waldboden wird zu Samt, die Maus zur Schnappschildkröte, die Eule heisst jetzt Insomnie. An ihre alten Namen erinnert man sich nicht. 

Er behält sie für sich, setzt sie hinter die Sammlung aus Wörtern wie welken,

Herbsthimbeeren, 

Trittbrett, 

Schellfisch, 

Anspielung, 

Refugium, 

Sammelsurium, 

Schlaftrunken, 

liebestrunken, 

Liebeskrank, 

Mitternachtsstunde, 

Delikatesse. 

Irgendwann hofft er sie alle einem würdigen Träger zu bringen.

Jeden Tag sucht er neue Opfer, die Namen müssen nicht gewollt, sondern insgeheim verehrt werden. 

Kies, 

Efeu, 

Tapete, 

missbilligend, 

bersten, 

Borsten, 

Schlaraffenland, 

Tohuwabohu, 

theatralisch,

Zypresse,

Pforte, 

Schwelle, 

Wahnsinn, 

kippelig, 

Kapern, 

Dioptrie, 

Dystopie, 

Poesie. 

Alles Dinge die es in seiner alten Heimat, dem Blaubeerbärenbusch, längst nicht mehr gibt. 

Verrottet: ein zugewachsener Himmelhimbeerhibiskus, der seinen Namen hasste. 

Der Blaubeerbär hatte Mitleid gehabt.

Er hatte sich von Geburt an nicht für einen eigenen Namen entscheiden können. 

Warum solle er sich auch auf nur ein einziges Wort, das ihn ganz beschreiben sollte, beschränken? 

Wo es doch so viele wundervoll klingende Wörter wie 

Staub, 

erschüttert,

Hypnotiseur,

Wahnsinn, 

Tinnitus, 

Zeremonie, 

Desorganisation,

flaschengrün,

Flur, 

Fluor, 

Korridor 

oder auch Schilf 

gab. Doch muss auch er einsehen, dass niemand sich tausende Namen merken kann. 

So blieb er immer nur der Blaubeerbär. 

Irgendwann wird er allem hier, ausser sich selbst natürlich, seinen rechtmässigen Namen verliehen haben und dann wird er gehen. 

Ins Meer, in die Wüste, in die Stadt und ins All. 

Immer auf der Suche nach mehr Wörtern. 

Und hier muss man erörtern, dass dies nun mal das ist, was ein Blaubeerbär tun muss. 

Er muss gegen den trägen Strom trotten, um nicht zu verrotten.

Anna Schwander

Eine Erinnerung 

Vor mir ausgestellt liegt eine weisse Tora. Während sie mir in ihrer blendenden Reinheit fast schon anmutig erscheint, jagt sie mir doch gleichzeitig einen sanften Schauer über den Rücken. Ich fühle mich nahezu klein und bedeutungslos vor ihr. Denn Worte tragen Macht. Und obschon ich nicht vermag, diese seltsam verschnörkelten, mit schwarzer Tinte eingravierten Schriftzeichen zu deuten, bleibt dennoch ein gewisser mysteriöser Eindruck der Macht und Bedeutung, den die merkwürdig eleganten Symbole der Schriftrolle verströmen.

Neben der Tora erkenne ich ein graues Täfelchen mit einer Beschreibung. Ich lese, und ich erfahre, dass in der Tora die fünf Bücher Mose aufgeschrieben stehen. Mose, Mose – Ich stutze – Der Klang des Wortes gelangt in mein Gehirn, gleichzeitig wird die Aussenwelt unklar, wie verschwommen; ich schliesse die Augen, öffne sie wieder und sehe in meinen Gedanken ein kleines Schulzimmer. Ich schaue durch das geschlossene Fenster neben mir; muss mich geradezu bücken, um überhaupt erst die Aussenwelt betrachten zu können. Vor meinen Augen erstreckt sich ein gigantischer Schulhof. Doch niemand ist da. Eine vertraute Stimme ruft mich aus meinen Gedanken zurück. Schnell gespielte Töne, Akkorde, von einer Gitarre gespielt, erklingen. Ich drehe mich um. Um mich herum, lauter kleine Kinder. Ihre Umrisse sind unscharf, schemenhaft, und dennoch kommen sie mir vertraut vor. Wie gebannt blicken die Kinder nach vorne, zu einem grossen Mann mit einer wohlklingenden Stimme. Er war es, der die Gitarre spielte. Er erinnert mich an meinen Vater, wie auch an einen Religionslehrer, der seiner widerwilligen kleinen Primarschulklasse die Geheimnisse des Christentums und die Offenbarung des Glaubens mitzugeben suchte.Mit seiner sonoren Stimme beginnt er zu singen.Die Melodien und Harmonien rauschen, wie Gebirgsbäche in den Fluss münden, auf mich zu. Der Mann singt; er singt tief und entschlossen, als wäre er selbst Moses, wie er vor dem ägyptischen König, in dessen mächtigem Palast, dem Zentrum der damaligen Welt, steht und dem Pharao befiehlt, sein Volk freizulassen, gut kann ich ihn mir vorstellen in einer altägyptischen antiken Tracht mit seinen feurigen Augen und dem entschlossenen Blick, gewaltig, laut polternd mit seiner mitreissenden Stimme, welcher alle Kinder fast schon scheu zuhören:

 Go down, Moses
 Way down in Egypt’s land
 Tell old Pharaoh
 Let my people go.

Einzelne Bruchstücke des Textes fliegen wie Sternschnuppen aus einer lang vergessenen Nische in den Tiefen meines Gedächtnisses hervor, die Klänge werden verzerrt – brüchig – leer – abgestumpft verschwimmt der Saal – Gedankenfetzen schweben wie Teppiche durch den Raum – ich öffne die Augen. Vor mir ein abgedunkelter Saal, eine Vitrine mit einer großen Schriftrolle; zwei Jugendliche auf der rechten Seite, ein Junge und ein Mädchen. Der Junge zwinkert mir lächelnd zu. 

Mio Ikezawa

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