«30 Prozent mehr Notrufe in den letzten fünf Jahren»: Der Job als Einsatzleiter kostet Nerven
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«30 Prozent mehr Notrufe in den letzten fünf Jahren»: Der Job als Einsatzleiter kostet Nerven

22.07.2023 07:50 - update 22.07.2023 19:46

Julia Schwamborn

Schroffe Antworten, Suggestivfragen, längeres Warten: Es gibt immer wieder Leute, die sich von der Einsatzzentrale der Polizei nicht angemessen betreut fühlen. Wir blicken hinter den anspruchsvollen Job.

Die Recherche zu diesem Artikel erfolgte aus folgendem Grund: Am vergangenen Samstagabend kam es am Unteren Rheinweg zu einer gewaltsamen Auseinandersetzung, bei der ein 19-Jähriger bewusstlos geschlagen wurde. Mit lebensbedrohlichen Verletzungen wurde der junge Mann schliesslich ins Spital eingeliefert. Jakob R., der in der Nähe mit einer Freundin am Rhein sass, beobachtete die Szene und verständigte die Einsatzkräfte. «Der junge Mann wurde von einem harten Schlag ins Gesicht getroffen. Er ist sofort zusammengesackt und liegen geblieben. Blut trat aus seinem Kopf». Ausgehend von dieser Sachlage alarmierte er die 117, also die Polizei.

«Meiner Erinnerung nach habe ich geschildert, dass es eine Schlägerei gab und eine Person bewusstlos am Boden liegt. Es ging dann lange darum, an welcher Buvette genau wir uns befinden. Ich wurde aber nicht weiter zur verletzten Personen befragt, oder dazu, was geschehen ist. Als ich herausgefunden hatte, wie die Buvette heisst, hat mich der Polizist am Telefon gefragt, ob es denn überhaupt nötig sei, dass jemand von ihnen kommt», schildert er die Ereignisse.

«Ich konnte das auf die Schnelle nicht entscheiden»

Diese Suggestivfrage habe Jakob verunsichert. «Wenn trotz eines Notrufs und der Beschreibung des Geschehenen hinterfragt wird, ob ein Ausrücken denn nötig sei, kommt man ins Zweifeln», so Jakob. Ihn habe der Vorfall die letzten Tage beschäftigt. Zum einen wegen der Tat an sich, zum anderen wegen der Reaktion der Polizei. «Unsereins ist ja nicht täglich in so einer Situation und weiss viel schlechter, welche Rettungskräfte wann angebracht sind. Ob es die Polizei braucht, wenn die Schlägerei vorbei ist, aber einer bewusstlos am Boden liegt, weiss ich nicht und konnte ich auf die Schnelle nicht entscheiden».

Die Kantonspolizei Basel-Stadt sagt auf Anfrage, das Tonband nochmals angehört zu haben. Sie könne allerdings kein Fehlverhalten seitens Einsatzleitzentrale feststellen. Aus Gründen des Datenschutzes ist es der Redaktion nicht möglich, Zugriff auf das Tonband zu erhalten und dies zu überprüfen

Ein anspruchsvoller Job, der einiges abverlangt

Die wenigsten Wissen, wer am anderen Ende der Leitung sitzt und den Notruf entgegennimmt. Im Baselbiet ist es die Einsatzleitzentrale in Liestal, welche über die 112, 118, die 117 und sogar über die amerikanische 911 erreichbar ist. Unterstellt ist sie Hauptmann Harry Knecht, der seit mehr als 20 Jahren bei der Kantonspolizei Baselland arbeitet.

«30 Prozent mehr Notrufe in den letzten fünf Jahren»: Der Job als Einsatzleiter kostet Nerven
Harry Knecht ist Hauptmann bei der Baselbieter Polizei und leitet das Kader der mobilen Polizei. Bild: Baseljetzt

Baseljetzt: Wie oft klingelt in der Einsatzleitzentrale das Telefon?

Harry Knecht: Rein über die Einsatzleitzentrale nehmen wir 59’000 Notrufe im Jahr entgegen. In den letzten fünf Jahren hat sich diese Anzahl um 30 Prozent erhöht. Neben diesen Notrufen kommen aber auch noch alle anderen Verwaltungstelefone rein. Darunter sind Leute, die auf unsere normale 061-Nummer anrufen, weil sie sich nicht trauen, den Notruf zu wählen. Insgesamt sind das auch nochmal 81’000. Dann sind wir schon bei 140’000 in Jahr. Selbstverständlich sind da automatisierte Alarm- und Brandmeldeanlagen noch nicht eingerechnet.

Kommt es vor, dass Sie aus Kapazitätsgründen keine Streife schicken können?

Wir haben durchaus einen echt hohen Personalbedarf. Mit einer begrenzten Anzahl an Polizist:innen und der steigenden Anzahl an Notrufen kommt es tatsächlich immer öfter vor, dass alle Patrouillen besetzt sind.

Wie erklären Sie sich die steigende Anzahl an Notrufen?

Was wirklich zugenommen hat in den letzten Jahren, ist die Diskrepanz im privaten sowie im öffentlichen Raum, also der Streit. Das nimmt tatsächlich zu, das merken wir. Darunter fallen Schlägereien, verbale Auseinandersetzungen, Nachbarschaftsstreit oder ganz spontane Auseinandersetzungen auf der Strasse, bei denen man sich einfach nicht einig ist. Das geht vom weggeschnappten Parkplatz bis hin zu Belästigungen. Man streitet heute viel schneller als früher.

Weshalb?

Das wissen wir nicht wirklich, denn wir betreiben keine Forschung dazu. Unsere Vermutung ist allerdings, dass es mit dem Dichtestress zu tun hat. Im Verkehr und auch am Arbeitsort wird es immer stressiger und auch anspruchsvoller. Es kommt schneller Hektik auf, was sicher einen Einfluss auf die Leute hat.

Da muss man sich zwei mal überlegen, ob man eine Patrouille hinschickt…

Wenn wir können, gehen wir hin. Denn wir wollen es nicht eskalieren lassen. Nicht, dass es noch in Tätlichkeiten oder Körperverletzung ausartet. Das Ziel ist in erster Linie aber die Schlichtung – und da kann man schon über ein Gespräch am Telefon viel bewirken. Mit geschickter Gesprächsführung können die Einsatzleiter:innen insofern Einfluss nehmen, dass es uns vor Ort gar nicht braucht. Wenn dem so ist, haben wir gut gearbeitet.

Und wenn Sie das nicht schaffen?

Dann schicken wir, wenn immer möglich, und sofern freie Patrouillen da sind, jemanden hin. Wenn wir keine freie haben, musste vermutlich etwas Anderes priorisiert werden. Wenn es beispielsweise irgendwo schon Verletzte gegeben hat, ein Einbruch stattfindet oder etwas Schwerwiegenderes ist, dann kommen wir halt dort vielleicht einmal später an. Das kommt tatsächlich immer öfter vor.

Wenn mehrere solche «schwerwiegenderen» Ereignisse stattfinden, kommen Sie ganz schön in Bedrängnis, nicht?

Zum Glück sind wir noch nicht dort, aber es ist schon so, dass wir Leute brauchen. Denn wenn es in diesem Mass weitergeht mit den den Notrufen, dann kommen wir an den Punkt, wo es wirklich zur Bedrängnis kommt.

Was sind die Gründe für fehlendes Personal?

Wir haben zum Glück noch gute Bewerbungen im Moment, auch wenn nicht mehr so viele. Bei den Jungen sind 24-Stundenbetrieb, Nacht- und Wochenendschichten aber irgendwie nicht mehr so gefragt. Dazu ist der Rückhalt in der Gesellschaft und der Politik nicht mehr gleich.

Auf Deutsch gesagt: Die Polizei hat einen schlechten Ruf?

Ja, das kann auch einer der Gründe sein. Das ist schon auch bei den Jüngeren ein Grund, weshalb es dort nicht mehr so Zulauf gibt.

Was muss ein:e Einsatzleiter:in mitbringen für diesen Job?

Bei uns arbeiten ausschliesslich Polizist:innen, die langjährige Erfahrung an der Front mitbringen. Um das komplexe Wissen über Einsätze zu haben, muss man diese Erfahrung einfach mitbringen. Einen Rucksack quasi, um das Zusammenspiel der Einsatzkräfte aus dem FF zu kennen. Man muss schon auch ein Talent dafür haben. Es braucht eine schnelle Auffassungsgabe, weil sie in sehr kurzer Zeit erfassen müssen, was ihnen am Telefon gesagt wird. Jeder Notruf ist unvorbereitet und kann immer etwas ganz Anderes sein. Das kann ein normaler Verkehrsunfall sein, eine Hilfeleistung, wenn beispielsweise ein Rentner aus dem Bett gefallen ist und nicht mehr aufstehen kann, aber auch ein Mann, der gerade seine Frau erstochen hat. Die Kunst liegt darin, das Gesagte schnell aufzunehmen und dann das Richtige auszulösen, also Entscheide zu fällen. Sie müssen Gespräche führen können und auf das Gegenüber eingehen, auch zuhören können. Und sehr gute Kenntnisse von Rechtsgrundlagen dürfen auch nicht fehlen.

Die vielen Bildschirme am Desk des:der Einsatzleiter:in sehen aus, als würde man hier Multitasking perfektionieren.

Es ist ein komplexes Einsatzleitsystem, mit Karten, GPS und Webcams. Man sieht genau, welche Patrouille am nächsten ist und welche Patrouille welche Ausrüstung dabei hat. Das ist ja nicht immer alles gleich. Nicht jede hat z.B. einen Hund dabei. Es kann auch eine Person in einer Patrouille sein, die eine besondere Ausbildung hat, beispielsweise ein Verhandler. Dieser kann bessere Gespräche führen, wenn wir beispielsweise irgendwo einen haben, der eine Suizidabsicht hat. Die Patrouille mit dem Verhandler hat vielleicht drei Minuten länger bis zur Ankunft, aber ist schlussendlich die bessere Wahl für den Einsatz. Es geht nicht immer nur um die Schnelligkeit, sondern auch um das richtige Mittel.

Das klingt nach einer echten Belastung.

Es ist ein sehr anspruchsvoller Job – und auch ein belastender. Man nimmt vieles, was am Telefon passiert, mit nach Hause. Es ist also schon eine psychische Belastung. Hinzu kommt, dass es ein 24-Stunden-Job ist, der natürlich einen Haufen Nacht- und Wochenenddienste erfordert. Trotzdem ist er hier recht beliebt.

Und trotzdem gibt es Beschwerden. Wie schaffen Sie es, die Qualität zu sichern trotz hoher Belastung?

Bevor man als Einsatzleiter:in anfängt, muss man eine explizit darauf getrimmte Ausbildung beim schweizerischen Polizeiinstitut und eine dazugehörige Prüfung absolvieren. Dann haben wir aber auch intern regelmässige Weiterbildungen, zum Beispiel zum Thema Zusammenarbeit. Da wird gespielt und geübt. Alle drei Jahre gibt es obendrauf Weiterbildungen in Gesprächsführung. Profis filmen das ganze, nehmen es auf und widerspiegeln es. Dazu wird bei uns jedes Telefonat auch aufgezeichnet. Sei das, wenn ein Fall schwierig läuft oder eine Beschwerde reinflattert: Dann werden sie selbstverständlich angehört und es wird geschaut, wie ist das abgelaufen ist. Das passiert im Sinne der Qualitätssicherung und der Weiterbildung. Aber auf die Anzahl der Notrufe erhalten wir zum Glück sehr, sehr wenige Beschwerden. In diesem halben Jahr waren das vielleicht vier bis fünf.

Was sind das für Beschwerden?

Das ist sehr spezifisch. Manchmal hat vielleicht der Tonfall nicht gestimmt. Wenn man dann rein hört, stellt man oft fest, dass er auf beiden Seiten nicht gestimmt hat. Es kann auch von unserer Seite vorkommen, dass man sich zu einem solchen Tonfall hinreissen lässt. Das kommt zum Glück selten vor. Denn das ist es, was einen Einsatzleiter ausmacht: Dass er eben auch in stressigen, aggressiven Situationen ruhig bleibt, nachfragt und wieder auf das Thema zurückkommt. Denn wir wollen ja wissen, was passiert ist und wo wir helfen müssen. Da dürfen wir nicht selbst zur Eskalation beitragen. Das darf und kann nicht sein.

Die Frage «müssen wir denn überhaupt kommen?» kann schon auch Verunsicherung stiften.

Die Fragestellung kann aus der Situation heraus entstehen, weil oft nicht klar ist, um was es geht. Bei sehr vielen Anrufer:innen müssen wir ganz dezidiert nachfragen. Logischerweise sind sie aufgebracht, weil sie irgendwo involviert waren oder etwas gesehen haben, das sie stresst. Wir müssen so genau nachfragen, weil wir kein Gegenüber haben. Wir haben nur das Ohr und keine Mimik und Gestik. Die hohe Kunst ist es, an den Pudels Kern zu gelangen. Wir kriegen sehr viele Anrufe, bei denen sich dann herausstellt, dass es sich nicht um ein polizeiliches Problem handelt und dass sie besser andere Hilfe in Anspruch nehmen sollten. Wir wollen aber auch dort helfen und niemanden abwürgen. Das kann jemand sein, der nicht in die Wohnung hineinkommt, oder ein Nachbarschaftsstreit, der sich am Tag zuvor zugetragen hat. Dort braucht es vielleicht wirklich keine Patrouille. Da reicht es, wenn man unterstützend agiert und Hilfe zur Selbsthilfe anbietet. Oder die Info, dass man auf dem Posten vorbeikommen und eine Anzeige erstatten soll. Im Zweifelsfall gilt aber: Lieber einmal mehr anrufen, als einmal zu wenig!

Wo Menschen aufeinandertreffen

Menschen wählen in der Regel den Notruf, während sie unter Stress stehen. Sie sind aufgebracht oder scheinen vor einem grossen Problem zu stehen. Dabei muss es sich nicht zwangsläufig um einen Notfall handeln, der die Polizei betrifft. Doch um das abzugrenzen, muss die Polizei Fragen stellen, die bei aufgebrachten Menschen durchaus falsch verstanden werden können. Hilfreich ist es, in diesem Fall nach einem klaren Schema vorzugehen:

1. Wer ist am Telefon?

2. Um wen oder was geht es?

3. Gibt es Verletzte?

So kann der Einsatzleiter oder die Einsatzleiterin wenn nötig schneller die Sanität/Feuerwehr alarmieren und sich dann um die genaue Verortung des Ereignisses kümmern. Hilfreich ist es auch, sich zu vergewissern, dass die Notrufzentrale während 24 Stunden von Menschen besetzt ist. Um es einfach auszudrücken: Wo Menschen auf Menschen treffen, kann es zu Missverständnissen kommen.

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22.07.2023 13:14

ralu4U

👍

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