«Als ich meine erste Rechnung verschickt habe, hatte ich ein schlechtes Gewissen»
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Ballettschule
Basel-Stadt

«Als ich meine erste Rechnung verschickt habe, hatte ich ein schlechtes Gewissen»

16.11.2023 18:38 - update 17.11.2023 10:10
Lea Meister

Lea Meister

Vor zehn Jahren hat die Baslerin Viviana Molle ihre eigene Ballettschule gegründet. Heute unterrichtet sie jeden Tag und hat einen Standort in Zürich eröffnet. Die Menschlichkeit, die ihr im Ballett zu kurz kommt, integriert sie in ihren Alltag.

Wenn Viviana Molle von ihren «Meitlis» spricht, wie sie ihre Schülerinnen liebevoll nennt, leuchten ihre Augen. Es ist unübersehbar, was ihr die Arbeit mit den Nachwuchsballerinen bedeutet.

Seit zehn Jahren gibt es «ihr Baby» an der Heuwaage in Basel, die Vivi Molle Ballettschule. Der Weg in die Selbständigkeit war bei Viviana Molle geprägt von Schicksalsschlägen, schicksalhaften Begegnungen, Zufällen und Mut. Mit 12 Jahren kam sie erstmals in Berührung mit Ballett. Eher zufällig, denn sie war keines der Mädchen, die von einer Ballettkarriere träumten. Sie besuchte damals zwar Tanzunterricht, allerdings im Hip-Hop-Bereich. Ihre damalige Lehrerin, die auch schon ihre Mutter unterrichtet hatte, empfahl ihr dann, Ballett zu tanzen, weil sie die körperlichen Voraussetzungen hatte.

"Als ich meine erste Rechnung verschickt habe, hatte ich ein schlechtes Gewissen"
Viviana Molle mit einigen ihrer Schülerinnen in ihrer Ballettschule. Im November haben sie auf das Jubiläum angestossen. Natürlich mit Rimuss. Bild: zvg

Die erste Probestunde an der Ballettschule des Theaters Basel (BTB) hat sie in schlechter Erinnerung. Gekleidet «wie eine Jazz-Tänzerin» und mit den falschen Schuhen, betrat sie den Raum. Das Ballettröckchen, welches ihre Mutter extra gekauft hatte, wurde ihr von einem Mädchen weggezogen. «Ich habe mich so geschämt», sagt Molle heute.

Talentförderung für junge Tänzerin

Julie Wherlock, die Direktorin der Junior School am Theater Basel, sagte ihr damals, dass sie wiederkommen solle, «aber in eine andere Gruppe». Eine bessere. Sie absolvierte die Ballett-Ausbildung an der BTB. Waren es zu Beginn noch zwei Trainings pro Woche, stand sie bald sechs Tage in der Woche auf der Matte. Eine Trainingsregelmässigkeit, die sich ihre alleinerziehende Mutter nicht leisten konnte, weshalb das Theater Basel die Kosten für ihre Einheiten übernahm.

Später wurde sie dann von Fred Feldpausch unterstützt, einem bekannten Tessiner Gastronomen und dem damaligen Hauptsponsoren der Ballettschule. Molles Mutter lud Feldpausch einmal zum Pizza essen nach Hause ein. «Davor hatte ich Angst, ein grosser Gastronom in dieser kleinen Wohnung. Und dann gab es auch noch Pizza», fürchtete sich Molle vor dem Abend. Die Pizza soll die «beste Pizza» gewesen sein, die er je gegessen habe, sagte Feldpausch, der in diesem Jahr verstorben ist.

Einige Jahre später, «mit 15 oder 16 Jahren», wechselte sie zu Galina Gladkova-Hoffmann an die Basel Dance Academy. Amanda Bennett, der Direktorin der Ballettschule am Theater, sagte sie im Einzelgespräch aus Angst vor ihrer Reaktion, dass sie ganz mit dem Ballett aufhöre. Später gestand sie ihr dann die Wahrheit. Bennett war schockiert und fragte sie, ob sie verrückt sei, mit dem Tanzen aufhören zu wollen.

Bennett wurde im vergangenen Jahr nach schweren Vorwürfen, die medial öffentlich gemacht wurden, als Direktorin freigestellt. Sie habe ein Klima der Angst erzeugt, wie mehrere ehemalige Schülerinnen zu Protokoll gaben. Nach einer Untersuchung wurde ihre Freistellung aufgehoben. Gründe für den Entscheid wurden keine genannt. Der EFZ-Lehrgang an der BTB wurde eingestellt.

Im Februar 2023 wurden ähnliche Vorfälle des Machtmissbrauchs aus der Dance Academy laut. Der Berufsverband Danse Suisse richtet eine Vertrauensstelle für Tanzschulen ein mit dem Ziel, dass  Tanzschulen und Pädagoginnen sich kostengünstig und problemlos anschliessen können. Gemeldete Vorfälle sollen eingeschätzt und die nötige Beratung oder Vermittlung ermöglicht werden können. Bei gravierenden Fällen soll auch ein Ausschluss der Schule aus den Kunst- und Sportprogrammen in Frage kommen.

Die ersten Rechnungen

Mit 19 kehrte Molle auch Gladkova den Rücken. «Ich konnte nicht mehr dort sein.» Sie tanzte fortan hobbymässig an anderen Schulen weiter und hoffte, sich so dennoch auf allfällige Auditions vorbereiten zu können. Zeitgleich absolvierte sie noch eine Lehre als Büroassistentin im Sportprogramm des Kantons.

Nach vielen Vertretungslektionen, die sie leitete, eröffnete sich ihr mit 22 Jahren die Möglichkeit, jeweils am Mittwoch eigene Ballettstunden zu geben. «Vivi» Molle traute sich, unterschrieb den Vertrag und wagte den Schritt in die Selbständigkeit. Am 6. November 2013 gab sie ihre erste eigene Ballettstunde und überzeugte die Mädchen scheinbar, denn sie kamen wieder. «In dieser Zeit habe ich erstmals Rechnungen verschickt. Mit 22. Das war unglaublich komisch für mich, ich hatte ein schlechtes Gewissen.» Irgendwie musste sie ja ihre Mietkosten decken.

Viel Verantwortung

In der Woche, in welcher sie sich selbständig machte, landete ihre Mutter, die unter der unheilbaren Krankheit Amyotrophe Lateralsklerose, kurz ALS, leidet, auf der Intensivstation. Molle machte weiter, versuchte, so gut es ging, auf eigenen Beinen zu stehen und gleichzeitig für ihren jüngeren Bruder und die Mutter da zu sein. Für Angehörige und Betroffene der Krankheit eröffnete Molle eine Facebook-Gruppe zum Austausch, die bis heute genutzt wird und 855 Mitglieder:innen aus verschiedenen Ländern hat.

Noch heute, zehn Jahre später, pflegt sie ihre Mutter, die im Pflegeheim zwar alles mitbekommt, was um sie herum passiert, sich aber nicht mehr bewegen oder kommunizieren kann. Vor sieben Jahren übernahm Molle das Tanzstudio, in welchem sie heute noch unterrichtet, zur Untermiete. Es kamen immer mehr Mädchen dazu, plötzlich unterrichtete sie an allen Wochentagen. Heute hat sie über 100 Schülerinnen, die jüngste ist fünf, die älteste über 70 Jahre alt.

«Bevor die ganze Bombe geplatzt ist»

Von 2015 bis 2020 unterrichtete sie ausserdem an der BTB und übernahm 2019 noch die administrative Leitung der Junior School. Zum Unverständnis vieler Freundinnen, die nicht verstehen konnten, weshalb sie sich nicht auf ihre eigene Schule fokussierte. Kurz vor der Corona-Pandemie, also nach knapp einem Jahr, kündigte sie den Job. «Bevor die ganze Bombe geplatzt ist», wie sie sagt und damit die schweren Anschuldigungen meint, die gegen die Ballettschule am Theater Basel medial ans Licht gekommen sind.

Menschlichkeit. Ein Wort, welches Viviana Molle oft benutzt. Ob die Menschlichkeit im Ballettumfeld zu kurz kommt? «Ja, auf jeden Fall», sagt Molle und spricht aus, was sie wohl von vielen anderen Personen in diesem Berufsumfeld unterscheidet, ohne zu realisieren, dass sie dies gerade tut: «Meine Sicht aufs Leben hat sich verändert, als meine Mutter krank geworden ist. Ich habe in dieser Zeit so viele tolle und hilfsbereite Menschen kennengelernt. Man beginnt, Dinge zu schätzen und das Oberflächliche zu verurteilen.»

Zweiter Standort in Zürich

Sie selbst hätte sich in jungen Jahren eine einfühlsame Person gewünscht, denn sie sei überzeugt, dass Kinder das brauchen. «Auch ich kann streng sein», sagt Molle und lacht, «aber dann, wenn es wirklich einen Grund dafür gibt.» Das mache sie aus.

Gemeinsam mit zwei Ballettlehrerinnen und Peter Zundel, dem «Grosspapi der Ballettschule», der ihr immer unterstützend beisteht und die Mädchen auch in die Sommercamps begleitet, arbeitet sie tagtäglich daran, den «Meitlis» die Freude am Ballett zu schenken, ohne sie in jungen Jahren schon auszubrennen.

Nach der Pandemie hat Molle im Zürcher Seefeld einen zweiten Standort übernommen, wo sie jeweils am Dienstag sechs Mädchen unterrichtet, um sich ein zweites Standbein aufzubauen. «Es erfüllt mich total. Mit Kindern zu arbeiten ist lustig, wunderschön, aber auch schwierig. Ich bin nicht nur eine Ballettlehrerin, sondern fühle mich oft auch wie eine Alltagspsychologin auf hohem Niveau.» Ob sie ihren Traum lebt? «Manchmal habe ich Mühe damit, zu realisieren, wo ich heute bin», sagt sie und hat dabei wieder das Leuchten in den Augen, das immer dann auftaucht, wenn sie von ihren «Meitlis» erzählt.

Aufführung «Piccolo Nussknacker»

Am Samstag, 18. November, treten die Schülerinnen der Vivi Molle Ballettschule im Scala Basel an der Freien Strasse auf. Die Aufführung «Piccolo Nussknacker» beginnt um 19.30 Uhr. Der Abend findet in Zusammenarbeit mit der Tanz Akademie Zürich und der Zürcher Hochschule der Künste statt.

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Kommentare

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16.11.2023 19:01

peco

Schon beim betreten der Garderobe fühlt man die fröhliche, positive Atmosphäre der Ballett Schule. Frau Molle ist eine gute Pädagogin, die es versteht, die Schüler/innen mit klaren Anweisungen zu fördern und fordern.
Auch für die Beratung der Eltern ist sie immer gerne bereit.
Sehr empfehlenswert.

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