«Es betrifft Menschen, die ohnehin schon einen schweren seelischen Rucksack tragen»
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Missbrauch
Basel-Stadt

«Es betrifft Menschen, die ohnehin schon einen schweren seelischen Rucksack tragen»

30.05.2024 18:42 - update 30.05.2024 18:43
Jessica Schön

Jessica Schön

Ein Sozialarbeiter steht unter dem Verdacht, die Abhängigkeit eines Klienten ausgenutzt zu haben. Im Interview mit Baseljetzt erklärt der Forensiker Marc Graf, wie Abhängigkeitsverhältnisse zu Missbrauch führen können.

Er soll einen ehemaligen, über 30 Jahre jüngeren, drogenabhängigen Klienten von Juli 2021 bis Februar 2022 bewusst in die Abhängigkeit gedrängt und dessen Notlage in mehrfacher Hinsicht sowohl psychisch als auch physisch ausgenutzt haben. Die Vorwürfe umfassen Schändung, Ausnützung der Notlage und Nötigung. Der Fall, der am Basler Strafgericht am 10. Juni verhandelt wird, lässt tief in menschliche Abgründe blicken.

Baseljetzt hat mit dem Forensiker Marc Graf, Leiter der Klinik für Forensik an der Universitären Psychiatrischen Klinik in Basel, darüber gesprochen, weshalb Missbräuche innerhalb von Abhängigkeitsbeziehungen besonders schwerwiegend sind – und was man tun kann, um die Opfer zu schützen.

Baseljetzt: Warum sind Abhängigkeitsverhältnisse problematisch?

Marc Graf: Abhängigkeitsverhältnisse sind nicht von sich aus problematisch. Von Kindesbeinen an sind wir auf die Unterstützung unserer Eltern angewiesen, ebenso wie wir als Patient:innen auf die Expertise medizinischer Fachkräfte oder als Bergsteiger:innen auf die Führung eines Bergführers oder einer Bergführerin angewiesen sind. Solche Beziehungen, die nicht immer auf Augenhöhe stattfinden, können positiv sein. Gesunde Menschen, die mit positiven Rollenmodellen aufgewachsen sind, können unterschiedliche Formen von Beziehungen gut bewältigen – sei es in einer führenden, unterstützenden oder auch lustvoll-abhängiger Rolle, solange sie von Vertrauen geprägt sind und nicht missbraucht werden.

Wann wird es problematisch?

Es gibt verschiedene Gründe, warum Abhängigkeitsverhältnisse missbraucht werden. In Krisensituationen können auch psychisch unauffällige, integre und kompetente Personen Fehler machen, die gegen ihre Normwerte verstossen. Menschen mit narzisstischen, dissozialen oder gar psychopatischen Persönlichkeitszügen, die egozentrisch, impulsiv und ohne Empathie ihre eigenen Bedürfnisse verfolgen, können solche Verhältnisse ebenfalls missbrauchen. Häufig wollen sie ein bestimmtes Ziel erreichen und nutzen andere dafür aus.

Manchmal spielen so genannte «neurotische» Elemente eine Rolle, leider sind diese Fälle oft sexuell konnotiert. Personen, die ein „top-down“-Verhältnis, also eine Beziehung mit einem Vorsprung an Kompetenzen der anderen Person gegenüber einer Beziehung auf Augenhöhe bevorzugen, haben oft ein brüchiges Selbstwertgefühl und Angst vor dem Verlassenwerden oder ein subjektives Gefühl der Unterlegenheit.

Welche psychologischen Elemente nutzen Täter:innen im Hinblick auf ihre Opfer aus?

Schlussendlich, und das ist eben besonders traurig, geht es bei solchen Missbräuchen fast immer um die seelische Bedürftigkeit der Opfer. Von bis zu einem gewissen Grad selbstreflexiven Tätern höre ich in der Therapie oft sinngemäss: «Es geht nicht darum, den Opfern Geschenke zu machen oder sie zu bevorteilen, das Wichtigste, um sie zu gewinnen, ist, ihnen das Gefühl zu geben, dass sie einem wichtig sind, etwas bedeuten, dass man sich Zeit für sie nimmt.» Die Opfer sind also oft bedürftige Menschen, bedürftig im Hinblick auf vertrauensvolle Beziehungen und Zwischenmenschliches. Sie fühlen sich nicht akzeptiert wie sie sind und nicht geliebt, oft schon seit ihrer Kindheit, und genau dort setzen die Täter an.

Was macht dieses Abhängigkeitsverhältnis im Falle eines Missbrauchs besonders gravierend?

Diese Menschen sind vulnerabel. Sie haben also bereits eine Wunde, und ein Missbrauch jedwelcher Art schlägt dann eine weitere Kerbe in diese offene Wunde. Es betrifft also Menschen, die ohnehin schon einen schweren seelischen Rucksack tragen und deshalb kann der Missbrauch eines Abhängigkeitsverhältnisses dann sehr schwere, teilweise bleibende, Schäden hinterlassen. Deshalb wird der Missbrauch in einem Abhängigkeitsverhältnis von uns auch zu Recht moralisch und strafrechtlich so stark verurteilt. Als Gesellschaft haben wir Instrumente, um klarzumachen, dass so etwas nicht sein darf.

Wie spielt da der Helferkomplex auf Seiten der Täter:innen rein?

Es gibt unterschiedliche Motive, um einen psycho-sozialen Beruf – von Fussballtrainerinnen über Lehrer bis hin zu Psychotherapeutinnen und Psychiatern – auszuüben. Es ist positiv, wenn diese Menschen Freude an ihrer Arbeit haben und darin Sinn finden, während sie ihren Lebensunterhalt bestreiten. Leider spielt bei manchen aber der von Ihnen genannte «Helferkomplex» eine zu grosse motivationale Rolle. Das heisst, dass das Bedürfnis, anderen bei ihrer Entwicklung und Bewältigung von Problemen zu helfen, aus einer problematischen eigenen Motivation entstehen kann. Das kann darauf zurückzuführen sein, dass eine Person Schwierigkeiten mit sich selbst hat und versucht, diese durch die Übernahme einer überhöhten Rolle zu kompensieren, wodurch ein Ungleichgewicht in der Beziehung entsteht.

Die Tätigkeit wird dann als wichtige oder gar einzige Möglichkeit angesehen, um selber psychisch stabil zu bleiben, sich als kompetent zu erleben. Die Person instrumentalisiert also ihre Rolle als Helfer:in, um ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen oder sich über andere zu erheben. Es gibt somit Personen, die – meistens unbewusst, einige aber auch durchaus bewusst – sich eine solche Position erarbeiten: sei es beruflich, im Freizeitverein oder in der Kirche. Dabei ist die Bandbreite extrem gross – also von Menschen, die eine Instrumentalisierung ihrer Stellung über Jahre hinweg planen bis hin zu Menschen, die eine Absicht von sich weisen und davon überzeugt sind, dass das jetzt halt einfach so passiert ist.

Wie kann garantiert werden, dass Fachkräfte in verantwortungsvollen Positionen die Risiken von Abhängigkeitsbeziehungen erkennen?

Man kann und muss von Personen in einer sogenannten Garantenstellung erwarten, dass sie das problematische Potential einer Abhängigkeitsbeziehung kennen und in der Ausbildung sowie fortlaufend selbst reflektieren, auch in Form von Super- und Intervisionen. Niemand ist davor gefeit, Fehler zu machen. Selbst sehr kompetente Psychotherapeut:innen haben sich gravierend vergriffen, unabhängig von ihrem akademischen Hintergrund oder von Titeln.

Wo wird Helfen missbräuchlich?

Es gibt verschiedene Stufen, ab denen eine Abhängigkeitsbeziehung als missbräuchlich betrachtet werden kann. Dies ist allerspätestens dann der Fall, wenn strafrechtliche Tatbestände vorliegen. Aber auch die Berufsgesellschaften erlassen Leitlinien, die das angemessene Verhalten definieren.

Auch auf der zwischenmenschlichen Ebene kann ein Verhalten als missbräuchlich empfunden werden, und es wird dann von uns erwartet, dass sich jemand in solchen Fällen entschuldigt und möglicherweise Kompensation oder Wiedergutmachung leistet.

Und schliesslich sollte man auch auf der innerpsychischen Ebene sicher sein, dass man nichts tut, das einem anderen Menschen gegenüber missbräuchlich oder übergriffig ist, sei es privat oder beruflich. Das geht nicht immer zu einhundert Prozent, und doch sollte man es mit allen Kräften versuchen. Es ist nicht erst dann problematisch, wenn es strafrechtlich relevant ist. Ganz nach dem Leitsatz: «Ich möchte doch nicht ein Mensch sein, der seine eigenen seelischen Bedürfnisse an – nicht mit – anderen Menschen auslebt.»

Gibt es Täter:innen, welche die geleistete Hilfe als Rechtfertigung für einen Missbrauch sehen? Und welche Rolle spielt darin die Sexualität?

Ja, das beobachten wir oft in Form von so genannten «kognitiven Verzerrungen». Ein pädophiler Täter, der einem Kind bei den Schulaufgaben hilft, um zu verhindern, dass es von der Schule fliegt, kann dies als Rechtfertigung für seinen sexuellen Missbrauch sehen. Er sagt sich dann selber: «Ich mache ja so viel für das Kind, und die Eltern kümmern sich nicht wirklich um es. Ohne mich wäre der Junge verloren.» Solche Rechtfertigungen sind verbreitet.

Ich habe im Rahmen von Therapien viel mit Pädophilen gesprochen. Und fast alle sagen: «Ich habe die Kinder geliebt, ich hätte ihnen nie etwas Böses antun können, das war Liebe auf Augenhöhe.» Das ist dann aber eine traurige Verklärung. Wenn man dann aber im Detail hinschaut, dann kommt man immer an diesen einen Punkt, dass genau dieses Gefälle auch oder sogar hauptsächlich das Attraktive war für den Täter, also dass man diese Machtposition in der Sexualität selbst ausleben kann. Im entscheidenden Moment sagen zu können: «Jetzt stell Dich doch nicht so an!». Wir Menschen sind leider erstaunlich gut darin, unsere eigenen Handlungen zu kognitiv zu rechtfertigen oder gar zu verklären.

Was können wir tun, um potenzielle Opfer zu schützen?

Missbräuche zu verhindern geht uns deshalb alle etwas an, sowohl privat, beruflich als auch gesellschaftlich. Schon missbrauchte Kinder verzweifeln an sich selbst. Sie erleben sich als wenig selbstwirksam im Sinne von: „Ich habe Vertrauen gegeben und wurde verletzt“. Dann ziehen sie sich natürlich irgendwann zurück, werden selber misstrauisch und entwickeln ambivalente bis instabile Beziehungsstile. Deshalb ist die ganz frühe Prävention so wichtig: Wir alle sollten bereits im Vorschulalter – altersgerecht – lernen, dass bestimmte Verhaltensweisen in unserer Gesellschaft nicht toleriert werden. Kinder müssen früh erkennen: «Halt, das, was ich als normal in meinem Alltag erlebe, ist für andere nicht normal.» Gleichzeitig müssen wir zeigen: Wenn dir etwas passiert, das gegen diese Normen verstösst, findest du Hilfe. Wir möchten, dass du dich meldest, und es gibt wirksame Hilfe, vor der du keine Angst haben musst. Wir schützen dich und lassen es nicht zu, dass Menschen wie du in unserer Gesellschaft missbraucht werden.

Zusätzlich müssen wir Normverdeutlichung in allen Bereichen schaffen: Sport, Kirche, Familie und so weiter. Da schauen wir noch viel zu wenig hin, auch in der Schweiz haben wir grossen Nachholbedarf. Übergriffe jeglicher Art müssen konsequent sanktioniert werden, und potenzielle Täter und Täterinnen müssen das wissen. Wir müssen zeigen: Übergriffe und Missbrauch werden nicht toleriert! Es braucht aber auch Stossrichtungen, die bei den Täter:innen ansetzen.

Welche wären das?

Einerseits geht es darum, den Täter:innen dann aber auch sofort Hilfe anzubieten. Wir müssen sie sanktionieren, aber gleichzeitig sagen: «Wir helfen ihnen, damit sie das in Zukunft nicht mehr tun.» Idealerweise erreichen wir, dass sie selbst zur Einsicht gelangen: «Ich will das nicht mehr tun, ich will ein wertvolles Mitglied unserer Sozialgemeinschaft sein.»

Andererseits müssen wir früh Hilfe anbieten, schon im Vorschulalter. Wenn in Kinderhorten Kinder beobachtet werden, die gegenüber anderen Kindern übergriffig und gewalttätig sind, müssen sie kompetente Unterstützung bekommen. Diese Kinder sollten nicht einfach in eine Sonderspielgruppe geschickt werden, wo sie sich früh als «anders» und noch mehr in der Gruppe der «Ausgestossenen» dysfunktionale, also problematische Strategien entwickeln, um ihre an sich normalen Bedürfnisse zu befriedigen. Vielmehr sollten dann professionelle Sozialarbeiter und Pädagogen früh mit diesen Familien, welche oft mehr das Problem sind als das Kind selbst, darauf hinwirken, dass das Kind eine prosoziale Entwicklung nehmen und sich positiv entfalten kann. Das gilt dann natürlich genauso im Jugend- wie auch im jungen Erwachsenen-Alter. Irgendwann ist dann aber leider «der Mist geführt» und Interventionen, auch therapeutische, sind viel weniger wirksam als in frühen Lebensabschnitten.

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Kommentare

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30.05.2024 20:44

Eliora

Nach den dritten Pünktchen habe ich aufgehört zu lesen. Dieses unnötige Gendern, die ihr um biegen und brechen in euren Artikeln benutzt, ist echt zum Kotzen!

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