«Es werden jedes Jahr mehr»: Die Opferhilfe beider Basel zu Gewalt gegen Frauen
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Interview
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«Es werden jedes Jahr mehr»: Die Opferhilfe beider Basel zu Gewalt gegen Frauen

25.11.2025 06:03 - update 25.11.2025 10:31
Valerie Zeiser

Valerie Zeiser

Beat John und Kirstin Busch beraten bei der Opferhilfe beider Basel Personen, die von Gewalt betroffen sind. Auch sie sehen einen Anstieg bei der Gewalt gegen Frauen.

Das Wichtigste in Kürze

  • Am Dienstag startet die Präventionskampagne 16 Tage gegen Gewalt an Frauen
  • Die Opferhilfe beider Basel betont, dass sich täglich sieben neue Frauen bei ihnen melden, die von häuslicher oder sexualisierter Gewalt betroffen sind
  • Geschäftsführer Beat John beobachtet zwar Rückschritte, er sieht aber auch ermutigende Tendenzen

Am 25. November startet jährlich die Präventionskampagne 16 Tage gegen Gewalt an Frauen. Sie dauert bis 10. Dezember. Mehr als 300 Organisationen engagieren sich schweizweit für die Kampagne. Darunter auch die Opferhilfe beider Basel. Zum Kampagnenstart hat Baseljetzt mit Geschäftsführer Beat John und Beraterin Kirstin Busch gesprochen.

Frau Busch, wie läuft das ab, wenn sich eine von Gewalt betroffene Person bei ihnen meldet?

Busch: Eigentlich ist das erste, was wir ihnen mitteilen; ‘gut sind sie da’. Wir hören der Person erstmal zu. Es geht uns nicht um Details, sondern darum, dass wir eine gute Beratung bieten können. Oft wollen die Personen es uns erzählen, damit es einmal ausführlich erklärt ist. Wir schauen immer, dass es für die Betroffenen stimmt.

Herr John, wie ist das Geschlechterverhältnis bei den Personen, die sich bei ihnen melden?

John: Das Team, das Frauen bei häuslicher und sexualisierter Gewalt berät, ist das grösste. 50 Prozent unserer Fälle sind häusliche und sexualisierte Gewalt. Und 70 Prozent aller Personen in der Schweiz, die in eine Opferberatungsstelle kommen, sind Frauen. Bei der Opferhilfe beider Basel melden sich jeden Tag sieben neue Frauen, die von häuslicher oder sexualisierter Gewalt betroffen sind. Gleichzeitig haben wir viele alten Fälle. So eine Beratung kann mehrere Jahre dauern.

«Es werden jedes Jahr mehr»: Die Opferhilfe beider Basel zu Gewalt gegen Frauen
Beat John ist seit 2022 Geschäftsführer der Opferhilfe beider Basel. Bild: Baseljetzt

Beobachten sie auch eine Zunahme der Gewalt gegen Frauen?

John: Wir haben jedes Jahr Wachstumszahlen im zweistelligen Bereich. Einerseits sind die Leute sensibilisierter und melden eine Grenzverletzung schneller. Auf der anderen Seite gibt es wirklich mehr Straftaten. Das spüren auch wir.

Warum nimmt das zu?

Busch: Das ist eine schwierige Frage. Ich denke, es ist eine vielseitige Krise, die unsere Gesellschaft gerade prägt. Die Welt wird immer komplizierter. Seit Jahren beschäftigen wir uns mit einem Krieg, der sehr belastend ist für unsere Gesellschaft. Die Anzahl psychischer Erkrankungen ist gestiegen. Gerade auch medial kann man sich schnell informieren über die Kriege. Wir haben beinahe ein Übermass an Informationen. Gleichzeitig verändern sich die Arbeitssituationen. Das alles bildet einen wackeligen Boden für uns als Gesellschaft.

John: Ich denke nur an meine Elterngeneration. Die musste doch nie Angst haben, einen Job zu verlieren. Heute ist das normal. Das erhöht auch den Druck auf Einzelpersonen und Familien. Und es gibt eine Polarisierung in der Welt. Wir haben die Guten und die Bösen. Die Binären und die woken Personen. Da muss man sich dann auch noch identifizieren. Wo bin ich jetzt? Das ist ein Druck, der auf Menschen einwirkt.

Gibt es auch politische Entscheidungen, die ihnen hier ins Auge stechen?

John: Gewisse Entscheidungen stimmen mich schon nachdenklich. Ständig gibt es angstmachende Diskussionen über Arbeitsplatzvernichtung, schrumpfendes Wirtschaftswachstum, Überbevölkerung, die bösen Fremden, Aufrüsten usw. – das hinterlässt Spuren. Nun sollten wir wieder Munition nachhause lagern. Diese Diskussion wurde schon häufig geführt, und wir hatten doch «Nein» gesagt, und zwar auch im Hinblick auf Femizide. Das sind alles ganz schwierige und belastende Themen. 

Wo steht denn die Schweiz beim Opferschutz?

John: Der Täterschutz wird immer noch stärker gewichtet als der Opferschutz. Das ist etwas, das mir zu denken gibt. Wir müssen den Opferschutz stärken. Diese Personen müssen meiner Meinung nach die höchsten Rechte haben in unserer Gesellschaft. Aktuell musst du als betroffene Person oder als Opfer dafür kämpfen, dass etwas passiert, dass du einen Anwalt bekommst. Als Tatperson wird dir ein Strafverteidiger zur Verfügung gestellt. Ausserdem gehen die Strafverfahren sehr lange. Die Tatperson hat die Möglichkeit, zahlreiche Einsprachen einzulegen, und das Opfer muss den Schritt dann mitgehen. So können Opfer nie abschliessen, nie verarbeiten. Das ist sehr belastend und nicht opferfreundlich. Gewisse Einsprachemöglichkeiten müsste man einschränken können.

Busch: Ausserdem brauchen wir opferfreundliche Befragungssituationen. Da sitzt du dann und musst von deinem Trauma erzählen. Gegenüber sitzt eine Person und tippt alles mit. Teilweise ist sogar noch der Anwalt der Gegenpartei im Raum. Das kann man sich kaum vorstellen, aber das ist wegen der Strafprozessordnung so. Bei Kindern ist das zum Glück anders, da wird das per Video aufgezeichnet und da sitzt sonst niemand mit im Raum. Auch für Erwachsene wünsche ich mir eine angemessene Atmosphäre für solche Befragungen.

Gibt es auch Dinge, die bei Gewalt gegen Frauen in die richtige Richtung gehen?

John: Ich sehe viele gute Massnahmen, etwa in Zusammenhang mit den Istanbul-Konventionen. Und ich glaube, dass eine Generation nachkommt, die nicht mehr so verkrampft umgeht mit Themen wie Schuld und Scham. Ich habe den Eindruck, dass sich die junge Generation einbringen und Verantwortung übernehmen will. Gerade auch bei den jungen Frauen. Sie stehen voll im Berufsleben und akzeptieren nicht, was die vorherige Generation noch akzeptiert hat. Das ermutigt mich.

Zur Istanbul-Konvention

Die Istanbul-Konvention ist ein Übereinkommen des Europarats, das Frauen und Mädchen vor verschiedenen Formen von Gewalt schützt. Am 1. April 2018 ist die Konvention auch in der Schweiz in Kraft getreten. Mit dem Nationalen Aktionsplan der Schweiz zur Umsetzung der Istanbul-Konvention wurden 2022 von Bund, Kantonen und Gemeinden konkrete Massnahmen festgelegt. Das Übereinkommen umfasst die Handlungsfelder Gewaltprävention, Gewaltschutz, Strafverfolgung sowie umfassendes und koordiniertes Vorgehen mit folgenden Zielen:

  • Der Gewalt gegen Frauen und der häuslichen Gewalt wird vorgebeugt und die Gewalt wird vermindert.
  • Opfer von Gewalt erhalten angemessenen Schutz und Unterstützung.
  • Gewaltstraftaten werden verfolgt und gewaltausübende Personen zur Verantwortung gezogen.
  • Die Umsetzung erfolgt umfassend und koordiniert auf allen föderalen Ebenen und unter Einbezug der Zivilgesellschaft.

Busch: Das kann ich bestätigen. Gerade bei den jungen Frauen und Mädchen sehe ich, dass sie sich auseinandersetzen mit Frauenrechten und auch dafür kämpfen. Ich spüre da eine Kraft, die ganz wichtig ist. Frauen trauen sich auch, darüber zu sprechen, was ihnen passiert ist. Früher war das mit sehr viel Scham behaftet, ist es immer noch, aber ich sehe immer mehr Frauen, die den Mut haben, offen darüber zu sprechen. Man spürt eine Solidarität. Das ist eine wichtige Botschaft für alle Betroffenen.

«Es werden jedes Jahr mehr»: Die Opferhilfe beider Basel zu Gewalt gegen Frauen
Kirstin Busch ist Beraterin im Bereich Kinder und Jugend bei der Opferhilfe beider Basel. Bild: Baseljetzt

Wie gross ist das Thema Scham noch bei sexualisierter und häuslicher Gewalt gegen Frauen?

Busch: Schuld und Scham sind leider zwei sehr tragende Säulen bei sexualisierter und häuslicher Gewalt. Man schämt sich dafür, dass einem das passiert ist. Man wird in eine Situation gebracht, in der man handlungsunfähig ist. Und am Schluss hat man dann doch das Gefühl, vielleicht etwas falsch gemacht zu haben. Wie bei einem Verkehrsunfall, wo man dann irgendwann anfängt, an der eigenen Unschuld zu zweifeln. Und das ist der Moment, in dem wir auch die Beratungsarbeit sehr zentral ist. Es ist wichtig, dass die Opfer verstehen, dass sie nicht schuld daran sind. Das Verhalten des Täters war falsch.

Was möchten Sie Opfern von Gewalt gerne mitgeben?

Busch: Mir ist wichtig zu sagen, dass die Menschen wissen, dass wir bei der Opferhilfe einer Schweigepflicht unterstehen. Das bietet auch den Rahmen, über Dinge zu reden, von denen man nicht möchte, dass sie nach aussen gelangen. So kann man vielleicht auch die Scham überwinden, sich Hilfe zu holen. Man darf auch für jemand anderen Hilfe holen. Und es gibt auch unsererseits keine Erwartungen, man verpflichtet sich zu nichts. Man darf einfach kommen und erzählen.  

John: Genau. Ausserdem ist man nicht alleine. Wenn man hier arbeitet, dann sieht und erfährt man wirklich unglaubliche und viele Sachen. Und was man lerntist, dass die Opfer nicht alleine sind. Du bist nicht die einzige Person, der das passiert ist. Deine Welt mag für dich untergehen und das Geschehene ist schrecklich, aber es gibt Wege, da heraus zu kommen. Es braucht Zeit, Geduld und viel Kraft. Aber du bist nicht allein.

Hier kannst du dich melden, wenn du dich in einer schwierigen Situation befindest:

  • Im Notfall und für Hilfe vor Ort: Polizeinotruf 117
  • Die Opferhilfe beider Basel ist durchgehend erreichbar unter +41 61 205 09 10
  • Für Schutzunterkunft von Frauen und Kindern an das Frauenhaus beider Basel 061 681 66 33 oder an das Wohnen für Frauen und Kinder 061 302 85 15
  • Für emotionale erste Hilde die dargebotene Hand unter der Nummer 143
  • Beim Sorgentelefon für Kinder und Jugendliche 147

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Kommentare

Dein Kommentar

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25.11.2025 08:18

Hrothgar71

Es soll mal über Gewalt an Männer berichtet werden. Diese Zahlen ist sicherlich auch ziemlich heftig gross..

0 2
25.11.2025 06:09

spalen

diese ständig zunehmende gewalt gegen frauen ist nicht akzeptabel. wir als gesellschaft müssen viel mehr dagegen tun, hinsehen und aktiv werden. ich weigere mich, diese gewalt als phänomen der zeit anzusehen, weil diese dadurch als gegeben definiert wird – und das genau ist sie nicht! wir alle haben die wahl und die möglichkeit, etwas zu tun

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