Lernendenbewegung Scorpio Basel: «Es brauchte schon immer Leute, die sich einsetzen – und das ist jetzt unsere Aufgabe»
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Basel-Stadt

Lernendenbewegung Scorpio Basel: «Es brauchte schon immer Leute, die sich einsetzen – und das ist jetzt unsere Aufgabe»

20.06.2023 18:12 - update 21.06.2023 10:14
Lea Meister

Lea Meister

Seit einigen Monaten macht die Lernendenbewegung Scorpio in Basel auf sich aufmerksam. Mit Postern in der Stadt und Beiträgen auf den Sozialen Medien fokussiert sich das Kollektiv auf Missstände in Lehrbetrieben. Was steckt dahinter?

«Die Lernendenbewegung Basel ist eine Gruppe von Lernenden, die sich gegen die Probleme in der Lehre wehrt. Wir haben genug davon, unten in der Hierarchie zu sein. Wir stärken einander und leisten zusammen Widerstand.» So stellt sich «Scorpio Basel» auf Instagram vor. Es folgt der Aufruf, dass sich melden soll, wer diese Probleme kenne. Baseljetzt hat drei Mitglieder des Kollektivs zum Gespräch getroffen.

Wie habt ihr euch gefunden? Wie kam es dazu, dass das Kollektiv «Scorpio Basel» entstanden ist?

Tom*: Es hat sich eine Gruppe aus Menschen gebildet, die sich gekannt haben. Also wurde nach weiteren Leuten im Umfeld gesucht, die dabei wären. Danach fand ein erstes offenes Treffen statt, bei welchem auch wieder neue Leute dazugekommen sind. Bei einem zweiten öffentlichen Treffen kamen nochmals neue Leute dazu. So versuchen wir auch weiterhin, möglichst viele Lernende zu erreichen.

Kommt ihr aus unterschiedlichen Branchen?

Luana*: Wir kommen aus verschiedenen Branchen. Wir haben Leute aus der Baubranche, aus technischen Berufen, aus der IT, aber auch aus künstlerischen Bereichen, Schneider:innen, Lernende aus dem Gesundheitsbereich und auch KV-Lernende. Wir sind wirklich sehr durchmischt.

Wie viele seid ihr?

Ben*: So 15 bis 20 Leute, die regelmässig dabei sind.

In welcher Regelmässigkeit trefft ihr euch?

Ben: Wir treffen uns alle zwei Wochen

Tom: Wenn wir uns treffen, bereiten Leute Themen vor, die wir dann besprechen. Ausserdem diskutieren wir auch darüber, was als Nächstes ansteht, was unsere Ziele sind und, wie wir weitere Leute erreichen können. Wir schaffen einen sozialen Austausch, was uns sehr wichtig ist.

Was sind eure Hauptanliegen?

Ben: Unser Ziel ist, Aufmerksamkeit auf die Probleme zu lenken, die in der Lehre vorhanden sind. Das können beispielsweise die Sicherheitsmassnahmen auf dem Bau sein, die nicht immer eingehalten werden. Dann finden viel Rassismus und Sexismus statt und viele Lernende werden auch einfach wirklich schlecht bezahlt. Da bräuchte es vielleicht eine einheitliche Regelung.

Habt ihr Institutionen im Rücken, die euch unterstützen?

Luana: Nein. Wir wollen eine Selbstorganisation sein. Wir machen das von uns für uns und haben keine Institutionen, mit welchen wir zusammenarbeiten.

Steht ihr im Austausch mit Ämtern?

Tom: Nein, wir haben auch schon von Fällen gehört, in welchen Leute von entsprechenden Stellen nicht die gewünschte Betreuung erhalten haben. Meistens, weil diese Stellen eher im Interesse der Betriebe handeln und oft auch mit ihnen vernetzt sind. So besteht aus unserer Sicht die Gefahr, sich in eine unangenehme Situation zu manövrieren. Wir wissen von einem Fall, bei dem jemand gute Unterstützung erfahren hat. In allen anderen Fällen war die Rückmeldung sehr schlecht.

Die Aufmerksamkeit lenkt ihr mit Postern in der Stadt und Beiträgen in den Sozialen Medien auf euch…

Luana: Genau. Und wir wollen einen sozialen Austausch schaffen, den es in dieser Art noch gar nicht gab, weil Lernende sehr isoliert sind. Teilweise ist man die einzige Lernende in einem Betrieb und viele sind auch noch sehr jung und fühlen sich mit ihren Problemen alleine gelassen. Man hört halt auch immer wieder, dass man da halt durch muss und Lehrjahre keine Herrenjahre sind. Missstände werden normalisiert und es wird geschaut, dass wir diese sehr isoliert voneinander aushandeln müssen. Wir wollen die Probleme deshalb kollektivieren und gemeinsam darauf aufmerksam machen. Als Gruppe probieren wir, so natürlich immer mehr zu werden und zu schauen, was passiert, wenn wir öffentlich für unsere Interessen einstehen.

Seht ihr euch auch als Möglichkeit für Lernende, sich einfach einmal auszutauschen?

Tom: Das ist uns sehr wichtig. Wir wollen ein soziales Umfeld schaffen, in welchem alle willkommen sind und sich alle wohlfühlen können. Wir sitzen alle im gleichen Boot und wollen uns gegenseitig helfen und uns stärken.

Wissen eure Lehrbetriebe von eurem privaten Engagement?

Alle: Nein.

Was kann man erwarten, wenn man sich bei euch meldet?

Tom: Wir haben beispielsweise die Möglichkeit, eine Rechtsberatung zu vermitteln. Danach können wir als Gruppe schauen, was unsere Handlungsmöglichkeiten sind. Wie können wir sicherstellen, dass für die betroffene Person keine Kündigungsgefahr besteht? Betriebe haben grundsätzlich eine relativ grosse Macht über Lernende. Es geht deshalb in erster Linie darum, einen Weg zu finden, ein Problem anzugehen, ohne die betroffene Person in Gefahr zu bringen.

Habt ihr eine «Blacklist» von Problembetrieben?

Tom: Uns gibt es erst seit knapp einem halben Jahr. Wir sind noch daran, uns selbst zu finden und unsere Forderungen auszuformulieren. Entsprechend sind auch noch nicht viele Personen mit spezifischen Fällen zu uns gekommen. Ich weiss auch nicht, ob eine solche Blacklist wirklich etwas bringen würde, weil im Endeffekt ja alle Fälle und alle Menschen unterschiedlich sind.

Luana: Und es können aus allen Betrieben Problemfälle entstehen. Klar, bei gewissen ist schon bekannt, dass gewisse Dinge falsch laufen, aber grundsätzlich können aus allen Branchen und aus allen Betrieben Leute kommen, die schlechte Erfahrungen machen.

Was sind realistisch gesehen die Punkte, die ihr angehen könntet?

Ben: Ich glaube, das Ansehen der Lehre zu verändern. Die Lehre wird immer noch weniger gut angesehen als andere Abschlüsse. Da kann noch viel getan werden. Ausserdem könnte man die Berufsmaturität weiter öffnen und für mehr Leute zugänglich machen.

Tom: Viele Leute wissen gar nicht, was die Lehre eigentlich für eine Belastung ist. Man geht zur Schule, geht zur Arbeit, lernt in der Freizeit. Es wird gar nicht gesehen, was in Lehren geleistet wird. Andere weiterführende Angebote werden höher angesehen, obwohl sie weniger belastend sind.

Wen nehmt ihr hier in die Pflicht? Woran liegt das?

Tom: Darauf habe ich auch keine schnelle Antwort. Früher warst du in der Lehre eher noch der klassische Handlanger. Da hat sich schon etwas geändert, aber das Ansehen ist gleichgeblieben.

Luana: Gleichzeitig ist die Einstellung immer noch so, dass alle, die können, das Gymnasium oder die FMS machen sollen. Und wenn man nicht kann, macht man halt eine Lehre. Da findet schon zum ersten Mal eine Abtrennung statt. Parallel dazu heisst es aber immer, es gebe einen Fachkräftemangel. Es braucht die Leute also dringend. Eine Lehre zu machen ist für eine junge Person heute aber einfach so viel weniger attraktiv als in die Schule zu gehen, weil die Belastung einfach so viel grösser ist. Deshalb werden die Lehren eher an diejenigen «abgetreten», die in der Sekundarschule schulisch nicht so stark waren. Das geht alles Hand in Hand und führt zu Abwertung.

Habt ihr eine Möglichkeit, Probleme, die ihr selbst erlebt, intern anzusprechen?

Ben: Nicht wirklich. Es gibt schon ein HR, aber ich habe nicht das Gefühl, dass einem dort zugehört wird.

Spürt ihr das bei vielen so heraus?

Tom: Ja. Das Problem ist halt auch, dass es in den Berufsschulen keinen schulpsychologischen Dienst gibt, wie ihn beispielsweise Gymnasien haben. Das ist auch etwas, was wir bemängeln.

Luana: Oft ist auch der Ausbildner der Chef. Ich erlebe oft, dass man mir sagt, ich soll zum Chef gehen, wenn ich mich unwohl fühle. So funktioniert das aber nicht, weil das Abhängigkeitsverhältnis zu gross ist und er oft auch Teil des Problems ist. Er als Ansprechperson bringt mich also absolut nicht weiter. Ich arbeite in einem Handwerksberuf und bin beispielsweise oft mit Sexismus konfrontiert während meiner Arbeit. Das kann ich auch nirgends ansprechen.

Seht ihr euch in eurem Engagement mit Kritik konfrontiert?

Tom: Zwischenmenschlich nicht, auch aus meinem sozialen Umfeld kenne ich das nicht. Wenn man aber Artikel zu jungen Menschen in der Arbeitswelt liest und sich die Kommentare darunter anschaut, dann reihen sich da unendlich viele Menschen aneinander, die behaupten, wir würden nicht arbeiten, seien faul… Das stört uns sehr, weil wir gerne arbeiten und die Tätigkeit erlernen wollen, die wir uns ausgesucht haben. Wir finden einfach die Bedingungen nicht gerecht. Die Grundlage ist oft nicht da, eine Berufslehre ohne gewisse Schäden zu überstehen.

Und wenn der Satz fällt «die Lehre bereitet euch nur aufs Arbeitsleben vor»?

Luana: Dann wollen wir das genauso ändern, wie wir die Bedingungen in der Lehre ändern wollen. Es kommt oft das Argument, dass damals vor vielen Jahren die Lehren noch viel härter waren. Wir sind uns bewusst, dass Menschen für bessere Bedingungen gekämpft haben und, dass es viele Veränderungen gab. Jetzt stehen wir aber an diesem Punkt, an welchem wir für weitere Veränderungen kämpfen müssen, damit es zu einem späteren Zeitpunkt noch besser sein kann. Nichts wird einem geschenkt, es braucht und brauchte auch schon immer Leute, die sich einsetzen. Und das ist jetzt unsere Aufgabe.

Hat meine Generation zu wenig getan?

Luana: Wir fragen uns schon, weshalb es seit den Siebzigerjahren keine Lernendenorganisation gab (lacht).

Tom: Die heutigen Vorgesetzten sind die Lernenden von damals. Entsprechend sind sie sich natürlich Strukturen und Umgangsformen gewöhnt, die noch von damals geprägt sind. Dass diese mit unseren Erwartungen kollidieren, ist völlig logisch. Es geht auch überhaupt nicht darum, jetzt mit dem Finger auf andere Generationen oder Menschen zu zeigen, denn auch sie sind einfach so geworden aus ihrer Sozialisierung heraus. Deshalb würde ich auch nicht einfach sagen, dass die ältere Generation schuld an den Missständen ist.

So einfach ist es vermutlich auch nicht…

Tom: Nein, das wäre viel zu einfach.

Ben: Was ich persönlich auch noch ganz wichtig finde, ist, dass die Ausbildung der Ausbildenden intensiver wird.

Tom: In der pädagogischen Ausbildung von Ausbildner:innen besteht noch ein grosses Defizit, auch in Grossbetrieben.

Was sind eure nächsten Schritte?

Tom: Wir arbeiten Forderungen aus und möchten diese dann möglichst breit streuen. Dann möchten wir eine Broschüre entwerfen, die die Rechte Lernender zusammenfasst, weil viele ihre Rechte gar nicht kennen. Da möchten wir Unterstützung bieten.

Luana: Wir wollen uns auf unsere Selbstorganisation konzentrieren und schauen, wo uns unsere eigenen Kräfte hinführen können.

Am 24. Juni organisiert ihr einen öffentlichen Grillabend, worum geht es da?

Luana: Wir wollen einen zugänglichen Rahmen schaffen, in welchem man sich kennenlernen und austauschen kann. Wir wollen neue Leute ansprechen und ins Gespräch kommen. Ein Grill ist motivierender, als die Einladung zu einer Sitzung nach einer langen Arbeitswoche. Deshalb haben wir uns für diese Variante entschieden.

*Die Namen wurden geändert.

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