
Warum auch jeder Mann «JEDE_ FRAU» lesen sollte
Michael Kempf
Die Expertin für sexualisierte Gewalt, Agota Lavoyer, setzt sich in ihrem neuen Buch mit der Rape Culture auseinander. Mit scharfem Blick zeigt sie, warum diese in unserer Gesellschaft allgegenwärtig ist.
«JEDE_ FRAU erfährt irgendwann in ihrem Leben eine Form von sexualisierter Gewalt», so lautet der erste Satz des neu erschienenen Buches «JEDE_ FRAU» von Agota Lavoyer. Mit dem Unterstrich nach dem Wort «jede» will Lavoyer darauf hinweisen, dass damit alle weiblich gelesenen Personen betroffen sind.
Mehr über Agota Lavoyer
Agota Lavoyer war acht Jahre lang als Schulsozialarbeiterin an verschiedenen Schulen tätig. Ihr besonderes Engagement galt der Prävention und Intervention bei Gewalt gegen Kinder. Als Schulsozialarbeiterin kam sie auch mit dem Thema sexualisierte Gewalt in Berührung und entwickelte ein grosses Interesse, sowohl im präventiven als auch im interventiven Kontext zu arbeiten. Anschliessend arbeitete sie während fünf Jahren als Beraterin und stellvertretende Geschäftsleiterin bei Lantana, der Schweizerischen Fachstelle Opferhilfe bei sexueller Gewalt, wo sie ausschliesslich Opfer von sexualisierter Gewalt, deren Angehörige und Fachpersonen beriet.
Als weitere Tätigkeit baute Lavoyer die Beratungsstelle Opferhilfe des Kantons Solothurn auf und leitete diese. Seither ist sie freiberuflich als Dozentin, Referentin, Buchautorin und Kolumnistin tätig.
Agota Lavoyer hat 2022 zusammen mit Anna-Lina Balke (Illustratorin) das Buch «Ist das okay?» herausgegeben, ein Kindersachbuch zur Prävention von sexueller Gewalt, das inzwischen über 15’000 Mal verkauft wurde und fünf Wochen auf Platz 1 und insgesamt bereits 24 Wochen in den Top 20 der wöchentlichen Bestsellerliste des Schweizer Buchhandels- und Verlagsverbandes war. In zahlreichen Interviews und Reportagen wird sie als Expertin für sexualisierte Gewalt und Opferberatung herbeigezogen.

Durch ihre langjährige Erfahrung als Schulsozialarbeiterin, Beraterin in der Opferhilfe und freiberufliche Dozentin und Referentin bringt Agota Lavoyer vielfältige Perspektiven und Erfahrungen zum Thema sexualisierte Gewalt ein, die sie in ihrem Buch thematisiert.
Die Mythen der Vergewaltigung
Gleich in den ersten Kapiteln räumt Lavoyer mit Klischees und Mythen rund um sexualisierte Gewalt auf. Mythen, die auch heute noch kursieren und von manchen geglaubt werden. Die Mythen vom fremden Mann, der der unschuldigen Frau nachts im Park auflauert, um sie zu vergewaltigen. Denn die Statistiken zeigen ein ganz anderes Bild: Täter und Opfer sind in der Regel keine Fremden und eine Vergewaltigung findet meist in den eigenen vier Wänden statt.
Dass auch die Erziehung eine grosse Rolle spielt und wie wir mit dem Motto «Boys will be Boys» Buben schon im Kindesalter ungewollt zu späteren Tätern erziehen, zeigt Lavoyer in ihrem Buch wunderbar auf. Jungs müssen sich durchsetzen, Jungs nehmen sich, was sie wollen. Jungs sind eben so und können ihr Verhalten nicht ändern. Mit dem Begriff «Boys will be Boys» wird dieses Verhalten gerechtfertigt beziehungsweise entschuldigt.
Bei keinem anderen Strafbestand erhält das Opfer so wenig Glaubwürdigkeit wie bei einem sexuellen Übergriff. Oder hast du dich bei einem Freund auch als erstes gefragt, ob seine Wohnung wirklich abgebrannt ist? Hat er sie nicht einfach selbst angezündet? Oder trägt er gar eine Mitschuld daran? Mit solchen einfachen Beispielen entlarvt Lavoyer die unbewussten Gedankengänge, die viele von uns bei einem sexuellen Übergriff noch haben.
Von der Prävention bis zur Filmkultur
Auch beim Präventionsansatz rund um sexualisierte Gewalt entlarvt Lavoyer den zwar gut gemeinten, aber dennoch falschen Ansatz. Die Prävention richtet sich nämlich ausschliesslich an die Opfer und wie sie sich verhalten sollen, um eine Vergewaltigung zu verhindern. Auch hier zieht Lavoyer den Vergleich zur Kampagne «Alkohol am Steuer». Dort werden ganz klar die Autofahrer zur Verantwortung gezogen. Niemand käme auf die Idee, Prävention für Fussgänger zu machen, wie sie sich vor betrunkenen Autofahrern schützen können.
Lavoyer beschreibt in einem ihrer letzten Kapitel, wie auch die Filmkultur unsere Wahrnehmung und unseren Umgang mit sexualisierter Gewalt beeinflusst. So werden Übergriffe in Filmen meist verharmlosend dargestellt oder aus der Perspektive des Täters gezeigt. Dadurch identifizieren wir uns automatisch mit dem Täter und nehmen die Tat eher als sexuellen Akt denn als Übergriff wahr.
Für Lavoyer ist auch klar, dass es mehr Filme über Rape Culture (also eine Kultur oder Gesellschaft, die Vergewaltigungen verharmlost oder ermöglicht) als über sexualisierte Gewalt geben sollte. Als positive Beispiele nennt sie die Serien «Unbelievable» und «I may destroy you» oder den Oscar-prämierten Film «Promising Young Woman».
Anpassung des Sexualstrafrechts
Der Kampf für eine gerechtere Welt, die sexualisierte Gewalt nicht mehr verharmlost, ist ein Kampf, den Agota Lavoyer schon lange führt. Umso bemerkenswerter ist es, wie es ihr gelingt, die Thematik rund um die Rape Culture sachlich zu beleuchten und mit Mythen aufzuräumen.
So auch die Anpassung des Sexualstrafrechts, die in der Schweiz am 1. Juli 2024 mit der «Nein heisst Nein»-Lösung in Kraft tritt. Für Lavoyer ein Schritt in die richtige Richtung. Nach der Lektüre ihres Buches wird aber auch klar, warum der Kampf damit noch lange nicht zu Ende ist. Ebenso verständlich wird, warum die «Nur Ja heisst Ja»-Lösung auch für die Betroffenen hilfreicher ist.
«Unlearn Rape Culture»
«JEDE_ FRAU» ist nicht nur ein Buch, das die Hintergründe und die Problematik unserer Gesellschaft im Umgang mit sexualisierter Gewalt aufzeigt. Es ist auch ein Buch, das uns hilft, die Dinge anders zu sehen. Es hilft zu verstehen, warum sich viele Frauen in unserer Gesellschaft unsicher fühlen und warum wahrscheinlich jede Frau schon einmal Opfer von sexualisierter Gewalt geworden ist.
Wir alle sind mit stereotypen Rollenbildern und Klischees aufgewachsen und wurden zum Teil von unseren Eltern, der Popkultur und anderen äusseren Einflüssen dazu erzogen. Dafür können wir nichts. Aber wir können uns dieses Verhaltens bewusst werden und uns weiterbilden. Bücher wie «JEDE_ FRAU» können dabei helfen. Denn auch wir Männer stehen in der Verantwortung, den gesellschaftlichen Wandel voranzutreiben.
Wenn du also das nächste Mal von einem sexuellen Übergriff oder einer Vergewaltigung hörst und dir als erstes durch den Kopf geht «Kann das denn stimmen?», dann empfehle ich dir unbedingt das Buch «JEDE_ FRAU» von Agota Lavoyer zu lesen. Dann wirst du verstehen, warum dein erster Gedanke nicht «Kann das denn stimmen?» sein sollte.
Oder um es mit den Worten der Ärzte aus ihrem Song «Deine Schuld» zu sagen: «Es ist nicht deine Schuld, dass die Welt ist wie sie ist. Es wär’ nur deine Schuld, wenn sie so bleibt».
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