
Die psychologischen Narben von Gewalt an Frauen
Larissa Bucher
Die Auswirkungen von Gewalt an Frauen können zu psychischen Problemen wie PTBS, Angstzuständen und Depressionen führen. Mit verschiedenen Unterstützungssystemen wird Betroffenen bei der Verarbeitung geholfen.
Gewalt gegen Frauen ist ein gravierendes gesellschaftliches Problem, das vielfältige psychische und physische Auswirkungen auf die Betroffenen haben kann. Frauen, die Opfer von körperlicher, sexueller oder emotionaler Gewalt werden, sind oft mit langanhaltenden Belastungen konfrontiert. Diese können das Leben der Betroffenen stark beeinträchtigen.
Aber es gibt eine Vielzahl von Unterstützungsmöglichkeiten, die Frauen dabei helfen können, ein gewaltfreies Leben zu führen und die psychischen Folgen zu verarbeiten.
Therapie auf Vertrauensbasis
Therapeutische Ansätze können die Grundlage für einen erfolgreichen Bewältigungsprozess bilden. Sie helfen den Frauen, ihre Traumata zu verstehen, ihre Gefühle zu verarbeiten und neue Bewältigungsstrategien zu entwickeln. Entscheidend sei, dass die therapeutische Arbeit auf die individuellen Bedürfnisse der betroffenen Frauen abgestimmt werde, erklärt Oliver Kiss, eidgenössisch diplomierter Psychotherapeut (ASP). Denn jeder Mensch reagiere anders auf belastende Erlebnisse und jede Verarbeitung des Erlebten verlaufe in einem eigenen Tempo. «Die Resilienzfähigkeit einer Person spielt bei der Bewältigung eines Traumas eine entscheidende Rolle, und diese ist individuell verschieden».
Therapeut:innen müssten daher einfühlsam und respektvoll auf die unterschiedlichen Bedürfnisse und Erfahrungen der Frauen eingehen und einen geschützten Raum schaffen, in dem sie ihre Gefühle wie Angst, Wut und Schmerz ausdrücken und sich den dahinterliegenden Bedürfnissen zuwenden können.
Oliver Kiss
Oliver Kiss arbeitet als Psychotherapeut, Gruppentherapeut, Coach, Berater, Supervisor und Dozent. Unter anderem war er mehrere Jahre in der Opferhilfe tätig. Neben der Ausbildung zum systemisch-lösungsorientierten Einzel-, Paar- und Familientherapeuten verfügt er unter anderem über Ausbildungen in Kinder- und Jugendlichentherapie, Paartherapie, Sexualtherapie, Klinischer Hypnose, Ego-State-Therapie, Traumatherapie, Psychoonkologie sowie Körperpsychotherapie.
Unerlässlich sei auch eine vertrauensbasierte Beziehung zwischen Therapeut:in und Klientin. «Eine Therapie, in der das Vertrauen und die Interaktion auf Augenhöhe fehlen, muss entweder geklärt oder beendet werden», sagt Kiss, ist sich aber auch bewusst, dass dies in Zeiten, in denen Therapieplätze immer schwieriger zu finden sind, eine Herausforderung darstellt. Zudem sei der Schritt, nach einem Therapiewechsel erneut Hilfe zu suchen, für viele Betroffene mit einer hohen Hemmschwelle verbunden.
In solchen Fällen empfiehlt Kiss die Kontaktaufnahme mit der Opferhilfe beider Basel oder der Therapieplatzvermittlung vom Verband der Psychotherapeuten Basel und BL (VPB). «Die Opferhilfe beider Basel ist ein hervorragendes und niederschwelliges Angebot, das gerade zu Beginn eine wichtige und zentrale Unterstützung leisten kann.»
Was ist ein Trauma?
Was aber erleben Frauen, die körperliche oder sexuelle Gewalt erfahren haben? Häufig entwickeln sie Symptome, die für eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) typisch sind. Dazu gehören Flashbacks, Albträume, ständige Wachsamkeit, Vermeidungsverhalten und extreme emotionale Reaktionen. Diese Symptome können zu erheblichen Einschränkungen im Alltag führen und sich auf das soziale und berufliche Umfeld auswirken.
Auch der Begriff PTBS sei dehnbar, erklärt Kiss. Mit der ICD-10 und neuerdings der ICD-11 gebe es zwar eine medizinische Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation (WHO), aber auch eine solche Klassifikation habe zwei Seiten. Einerseits bestehe die Gefahr der Stigmatisierung – etwa als Aussage über eine Person: «Kein Wunder, dass Person X so ist, die hat ja auch eine PTBS» oder als «Ausrede»: «Weil ich die Diagnose X habe, kann ich nicht …». Andererseits kann eine Diagnose Orientierung geben, wodurch eine Art Normalisierung stattfinden kann. So können Phänomene wie «Dissoziation» als Folge eines massiven Übergriffs dadurch erklärt werden, dass der Körper auf eine ungesunde Situation sehr gesund reagiert.
Für Oliver Kiss ist es daher wichtig, sich mit seinen Klient:innen Zeit zu nehmen, um sowohl die Diagnose als auch die körperlichen Reaktionen zu besprechen und zu erklären. Dabei gilt der Grundsatz: «Jeder Mensch ist einzigartig und verarbeitet Verletzungen auf seine eigene Art und Weise.»
Was ist das UCd11?
Die UCd11 (Unified Classification of Diseases, 11. Revision) ist ein umfassender Ansatz zur Klassifikation von Krankheiten und Gesundheitszuständen und wird weltweit als Referenzsystem für medizinische Diagnosen verwendet. Sie dient als Standard für die Kodierung von Krankheiten, Verletzungen und anderen Gesundheitsstörungen und bietet eine systematische und standardisierte Methode zur Erfassung und Analyse von Gesundheitsdaten.
Schlechtere Lebensqualität
Darüber hinaus können gewaltbetroffene Frauen unter ausgeprägten Angstzuständen leiden. Diese äussern sich häufig in ständiger Sorge um die eigene Sicherheit oder die der Familie. Betroffene können ein hohes Mass an Misstrauen entwickeln und haben oft Schwierigkeiten, in Beziehungen oder in der Öffentlichkeit wieder Vertrauen zu fassen, was zu einem zunehmenden «sozialen» Rückzug führen kann. Diese Ängste können durch wiederholte Bedrohungs- und Gewalterfahrungen verstärkt werden und das Leben der Frauen so sehr bestimmen, dass sie Schwierigkeiten haben, ihre gewohnte Lebensqualität aufrechtzuerhalten.
Ein weiteres häufiges Problem sind sogenannte Folgeerscheinungen wie Depressionen, selbstverletzendes Verhalten oder andere Bewältigungsstrategien. Denn: «Gewalt kann das Selbstwertgefühl der betroffenen Frauen erheblich mindern und zu Gefühlen wie Schuld, Scham und Hilflosigkeit führen». Vor allem bei sexueller Gewalt werde zudem die Würde der Betroffenen zutiefst verletzt. «Würde ist ein extrem hohes Gut, sie ist ein zentraler Begriff des Menschseins», betont Kiss.
Diese Gefühle können sich auch in körperlichen Symptomen wie Schlafstörungen, Appetitlosigkeit, Kopfschmerzen, Bluthochdruck und vielem mehr äussern. «Körperliche und seelische Beschwerden hängen oft zusammen und sollten nicht getrennt, sondern in ihren Wechselwirkungen betrachtet werden», sagt Kiss. Hinzu kämen Bewältigungsstrategien, die einen hohen Preis haben, wie etwa Alkohol- oder Drogenmissbrauch, die zu körperlichen Problemen führen können. Gewalt gegen Frauen sei also vielschichtig und könne einen «langen Rattenschwanz» nach sich ziehen, der nicht immer sofort erkennbar sei.
Suchtmittel als Therapie
Vor der Entwicklung der modernen Psychotherapie suchten viele Menschen nach Möglichkeiten, mit emotionalen Belastungen umzugehen und griffen dabei häufig zu Alkohol und anderen Suchtmitteln als Bewältigungsstrategie. In einer Zeit, in der psychische Probleme kaum verstanden wurden und professionelle Hilfe selten war, boten diese Substanzen eine vorübergehende Erleichterung. Diese vorübergehende Lösung verstärkte jedoch häufig die zugrunde liegenden Probleme und führte zu Abhängigkeit. Erst durch die Arbeit von Freud und anderen Therapeuten wurde deutlich, dass die Auseinandersetzung mit den eigenen Gefühlen und professionelle Unterstützung langfristig die gesündere Alternative darstellen.
Verschiedene Methoden können helfen
Traumatherapie ist ein wesentlicher Bestandteil der psychischen Bewältigung. Therapeut:innen, die auf Traumafolgestörungen spezialisiert sind, können betroffenen Frauen helfen, ihre traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten, indem sie sie darin begleiten, gesunde Bewältigungsmechanismen zu entwickeln. Verschiedene therapeutische «Schulen» (Verhaltenstherapie, systemische Therapie, psychodynamische Therapie, Körperpsychotherapie, neurobiologisch fundierte Ansätze etc.) sowie unterschiedliche Methoden und Ansätze (Hypnose, Ego-State, EMDR, achtsamkeitsbasierte Ansätze) haben sich als hilfreich erwiesen.
Oliver Kiss betont jedoch, dass es für ihn nicht die eine Therapieform gibt, die für alle und alles hilft. Er selbst arbeitet bei Traumafolgestörungen mit einem integrativen Ansatz: «Ich konzentriere mich nicht auf eine Methode, sondern kombiniere verschiedene Ansätze aus unterschiedlichen Richtungen», erklärt er. Dieser Ansatz hat sich für ihn als besonders hilfreich erwiesen. «Für mich ist es wichtig, über ein Therapiekonzept zu verfügen, welches verschiedene Methoden zusammenführt und sich somit an den individuellen Bedürfnissen der Klient:innen orientiert».
Was sind körperorientierte Therapieverfahren?
Körperorientierte Therapiemethoden betonen die enge Verbindung zwischen Körper und Geist und verstehen körperliche Empfindungen als wichtigen Teil des Verarbeitungsprozesses. Somatic Experiencing geht davon aus, dass traumatische Erfahrungen im Körper gespeichert sind und zu körperlichen Verspannungen und Blockaden führen können. Ziel dieser Therapie ist es, die Körperwahrnehmung zu schärfen und den Klienten dabei zu unterstützen, emotionale und körperliche Blockaden zu lösen.
Besonders gute Erfahrungen hat er auch mit körperorientierten Therapieverfahren wie Somatic Experiencing oder klassischen Methoden wie EMDR, EMI oder Brain Spotting gemacht. Kiss verfolgt weiterhin den Ansatz, dass alle Methoden, die die Sinne ansprechen, in die Traumatherapie integriert werden können. Aus diesem Grund ist er ein grosser Befürworter der Hypnosystemik, die Elemente der Hypnotherapie mit systemischen Ansätzen verbindet.
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