Entfremdung, Überraschung und Irritation: Mark Jenkins hält uns gnadenlos den Spiegel vor
Lea Meister
Der Amerikaner Mark Jenkins ist mit seiner Arbeit im Basler Artstübli zu Gast. Seine Skulpturen sind Metaphern für die heutige Gesellschaft. Im Herbst werden zwei davon auch in der Stadt Basel zu sehen sein.
Wer derzeit das Artstübli betritt, mag im ersten Moment etwas irritiert sein. Sechs düstere Gestalten empfangen die Besucher:innen. Allesamt vermummt und ohne den Hauch eines Gesichts. Eine erhebt einen Baseballschläger, eine andere hat ihren Kopf auf dem Tisch abgelegt.
Mark Jenkins, ein amerikanischer Künstler, erschafft lebensgrosse und beängstigend realistisch wirkende Skulpturen. Gesichter haben sie nie, denn dann würde das Publikum Empathie entwickeln. So entsteht eher eine Unbehaglichkeit, eine stets anhaltende Unsicherheit. Fast möchte man sich entschuldigen, wenn man einer Skulptur zu nahe kommt.
Gesichtslose treffen uns dort, wo es weh tut
Der Amerikaner hält uns den Spiegel vor, seine Skulpturen sind Metaphern für die heutige Gesellschaft. Er scheut sich nicht, Tabuthemen wie Suizid, Gewalt oder Einsamkeit aufzugreifen und auf eine Weise darzustellen, die einem trifft. So installierte er 2018 84 Skulpturen auf einem Dach in London, um auf die Anzahl wöchentlicher Suizidfälle in Grossbritannien aufmerksam zu machen. Eine Aktion, die ihm auch Kritik einbrachte, da viele Menschen den Notruf verständigten, aus Angst, dass die so echt aussehenden Personen auf dem Dach sich etwas antun könnten.
Die Gestalten, wie sie hier so im Artstübli sitzen, stehen oder liegen, tun einem leid. Sie wirken alleine und stehen gelassen und verkörpern Emotionen, die wir alle kennen. Genau das bringt die Skulpturen den Betrachter*innen so nahe. Fast unangenehm nahe. Sie treffen uns dort, wo es weh tut. Und das, obwohl sie Gesichtslose sind.
Speziell an Jenkins’ Werken ist sicher die Präzision, mit welcher er seine Figuren umsetzt. Kunsthistorisch knüpft er an den Amerikaner Duane Hanson an, der mit seinen Installationen brisante Themen der amerikanischen Gesellschaft aufgriff und als Begründer des Hyperrealismus in der Pop-Art-Bewegung gilt.
Zu Beginn seiner Karriere als Künstler, die 2001 startete, produzierte der heute 53-jährige Jenkins hauptsächlich lebensechte Tierfiguren und vereinzelt auch Menschen. Die Skulpturen, die er heute erschafft, stellt er aus Klarsichtfolie und Klebeband her. Zur Stabilisierung der Form verwendet er Bauschaum, Zement und ein Holzgerüst. Eingekleidet sind die Figuren im Artstübli mit Jenkins eigener Kleidung.
Keinen Platz in der Gesellschaft
Der Hyperrealismus ist es auch bei Jenkins, der die Leute regelrecht an den Scheiben des Artstüblis kleben lässt. Schaut man sich die Scheiben an, sieht man deutliche Abdrücke von Händen und Nasen. Philipp Brogli, Inhaber des Artstüblis und Kurator, berichtet von vielen neugierigen Gesichtern: «Gerade, wenn es langsam dunkler wird, kleben Leute an der Scheibe und schauen sich die Skulpturen genauer an.» Manch einer wartet wohl kurz ab, ob sich auch wirklich keine der Skulpturen bewegt, so beispielsweise auch, wenn Brogli tagsüber am Tisch arbeitet, gemeinsam mit der Skulptur, die ihren Kopf auf dem Tisch abgelegt hat.
Die Figuren werden an ungewöhnlichen Orten im öffentlichen Raum platziert. Doch nicht nur die Orte sind ungewöhnlich, auch ihre Positionen ziehen automatisch Aufmerksamkeit auf sich. In ihren provokativen Haltungen und ihrem Aussehen geben sie einem das Gefühl, nicht Teil einer Gruppe zu sein und ihren Platz in der Gesellschaft somit nicht zu finden. Sie erzählen von der Andersartigkeit. Das Gefühl, welches die Skulpturen beim Betrachten auslösen, ähnelt etwas demjenigen, wenn man Bettelnden begegnet – vielleicht könnte man es als eine Mischung aus schlechtem Gewissen, Scham und der Furcht vor etwas Unbekanntem bezeichnen.
Betrachter*innen werden zu Teilen seiner Experimente
Jenkins kreiert einen voyeuristischen Blick auf Menschen, welche die Gesellschaft von aussen betrachten müssen. Genau in diesem Moment hält er uns den Spiegel vor, was für ein unangenehmes Gefühl sorgt. Die Reaktionen der Menschen auf seine Werke im öffentlichen Raum werden zum Teil seiner Kunst. Die Betrachter:innen werden zu Studienobjekten und Teilen von Experimenten, die Jenkins noch so gerne durchführt. So sagt Jenkins denn auch selbst: «Ich schaffe zuerst eine soziale Erfahrung. Ich könnte Soziologe sein. Ich glaube, ich erfor sche etwas, das über die Kunst hinausgeht. Es ist eine andere Erfahrung.»
Die im Artstübli ausgestellten Skulpturen sind eine Leihgabe der Sammlung Fahrni und lassen sich noch bis Ende August bestaunen. Jenkins Skulpturen wurden schon in Miami, Paris, Düsseldorf oder London ausgestellt – in Galerien und im öffentlichen Raum. Anfang August werden auch Baslerinnen und Basler zu Teilen seiner Experimente, dann installiert Jenkins nämlich dauerhaft zwei Skulpturen im öffentlichen Raum der Stadt Basel. «Die Orte wurden noch nicht ausgesucht, es soll aber ganz klar eine Interaktion mit der Bevölkerung entstehen», so Brogli.
Während der Art Basel ist das Artstübli von Mittwoch bis Sonntag jeweils von 11 bis 18 Uhr geöffnet.
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