Antisemitismus
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Ralph Lewin: «Man darf den Staat Israel kritisieren»

01.11.2023 18:10 - update 06.11.2023 10:05
Jessica Schön

Jessica Schön

Seit dem Krieg im Nahen Osten kommt es zu mehr Anfeindungen gegen Juden. Baseljetzt hat mit dem Präsidenten des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund über die Auswirkungen und Gegenmassnahmen gesprochen.

Ralph Lewin wurde 2020 zum neuen Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG) gewählt. 1997 bis 2008 war er in der Regierung des Kantons Basel-Stadt tätig und führte das Wirtschafts- und Sozialdepartement. Lewin ist verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder und lebt in Basel.

Baseljetzt: Die Übergriffe an Juden haben hierzulande zugenommen. War damit zu rechnen?

Ralph Lewin: «Es ist tatsächlich eine sehr starke Zunahme zu verzeichnen, vor allem an Tätlichkeiten, was sonst sehr selten ist. Darunter fallen auch extreme Beleidigungen mit Bezugnahme auf Naziideologien. Es ist oft oder meistens so, dass die Fälle zunehmen, wenn im Nahen Osten ein Konflikt herrscht, weil Personen falsche Schlussforderungen ziehen und jüdische Menschen für jegliche Entwicklungen verantwortlich machen. Aber in diesem Ausmass haben wir es in den letzten Jahren nie erlebt».

Wie erklären Sie sich die Übergriffe an den Schulen bei den Kindern, welche selbst wenig historische Kenntnisse über den Konflikt haben?

«Das ist vielleicht das Problem, hätten sie historische Kenntnisse, würden sie möglicherweise sehen, dass es immer zwei Seiten einer Medaille gibt. Ich glaube, dass Jüngere zuhause auch immer wieder mit Vorurteilen und Stereotypen über jüdische Menschen in Kontakt kommen. Diese werden dann verbreitet und wenn dann ein auslösender Faktor da ist, ein sogenannter Trigger, dann kommen diese an die Oberfläche. Leider sind bei vielen Leuten irgendwelche antisemitischen Gefühle vorhanden. Das ist bei den Kindern nicht intrinsisch, sondern das sind Sachen, die sie übernehmen.»

Welche Rolle spielen bei diesen Übergriffen die Sozialen Medien?

«Die Sozialen Medien sind ein ganz wichtiges Element davon, wie negative Botschaften über Jüd:innen und Angehörige anderer Minderheiten Verbreitung finden. Das geht ganz schnell, etwa in grösseren Chatgruppen, wo jemand eine negative Haltung verbreitet, was dann vielleicht geliked wird — und schon zirkuliert das. Darum ist sehr wichtig, dass man beispielsweise in Schulen lernt, mit diesen Sozialen Medien umzugehen, sodass man nicht alles, was man dort hört, für bare Münze nimmt. Wir erwarten auch, dass die Sozialen Medien gewisse Botschaften so schnell wie möglich löschen. Verglichen mit anderen Ländern sind die Auflagen für diese Unternehmen hier in der Schweiz zu lasch. Es kann nicht sein, dass man in diesen Netzwerken praktisch ungestraft irgendwelche Verleumdungen verbreiten kann».

Können Sie nochmal darauf eingehen, wen Sie in dieser Hinsicht in der Verantwortung sehen? Die Politik oder die Konzerne?

«Einerseits die Konzerne selbst: Sie müssen eine Moderation vornehmen. Es gibt noch immer solche – wie etwa Instagram oder X – wo die Redefreiheit uneingeschränkt als oberstes Gebot gehandelt wird. Wir meinen, dass das nicht sein kann. Man darf auch sonst nicht jemandem einfach alles an den Kopf werfen, was einem gerade in den Sinn kommt. Hier haben also die Sozialen Medien eine Aufgabe, und der Staat muss zusehen, dass durch die Gesetzgebung griffige Instrumente bereitstehen. Ich bin mir bewusst, dass das sehr anspruchsvoll ist. Man kann nicht eben einen Herrn Musk anrufen. Wenn man von diesen Personen etwas möchte, muss man einen ziemlichen Aufwand betreiben. Hier erwarten wir aber, dass die Politik die entsprechenden Massnahmen zur Verfügung stellt».

Wo verläuft aus Ihrer Sicht die Grenze zwischen der Kritik an der israelischen Regierung und Antisemitismus?

«Die Israelische Regierung darf man sehr breit kritisieren und man darf auch den Staat Israel kritisieren, aber man sollte die gleichen Massstäbe anwenden, wie bei anderen Ländern. Was antisemitisch ist, ist wenn man Israel das Existenzrecht abspricht. Das ist inakzeptabel und fällt unter eine international anerkannte Antisemitismus-Definition».

Raten sie den Juden in der Gesellschaft, sich nicht mehr erkennbar zu machen?

«Wir raten nicht dazu, dass man sich nicht mehr zeigt, weil wir finden, dass das jüdische Leben weitergehen muss. Wir erwarten, dass die jüdischen Einrichtungen und die jüdischen Menschen genügend geschützt werden. Hier sind wir auch in Kontakt mit den Sicherheitsbehörden sowohl auf Bundesebene, wie auch mit gewissen Kantonen und Gemeinden. Die Sicherheitsmassnahmen werden laufend überprüft und wenn nötig angepasst. Letztlich ist das aber eine subjektive Empfindung. Gerade heute habe ich von einem Bekannten erfahren, das er sein Kind nicht mehr mit dem Davidstern-Anhänger in die Schule schickt, weil er Angst hat. Wir hoffen wirklich nicht, dass das um sich greift und dass man sein jüdisches Leben auch in Zukunft weiterleben kann».

Was sagt es allgemein über die Situation aus, wenn Kinder ihren jüdischen Glauben in der Schweiz nicht mehr ausleben können?

«Ich würde nicht soweit gehen zu behaupten, dass man den Glauben hier nicht mehr ausleben kann. Der Hass in der Gesellschaft ist einfach da, je nach dem was passiert, tritt er aber stärker an die Oberfläche. Ich bin der Meinung, dass man gegen Antisemitismus aber auch Rassismus sehr konsequent vorgehen muss. Hier erwarten wir vom Bund, dass Strategien ausgearbeitet werden: Was sind die Ursachen? Wie kann man am besten dagegen vorgehen? Mit welchen Mitteln? Welche Organisationen kann man im Kampf gegen Antisemitismus unterstützen? Und wo machen wir in der Schweiz deutlich zu wenig?»

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Kommentare

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03.11.2023 07:51

mil1977

Antisemiten und Rassisten gehören umgehend allsamt aus dem Land gejagt.
Kann doch nicht wahr sein, Asyl an der Grenze weinen und dann hier auf dicken Mullah machen und nebenbei üppige Sozialhilfe kassieren.

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01.11.2023 19:38

zottel

Unsere Regierung ist direkt mitschuldig an Übergriffen und Antisemitismus. Sie weigert sich immer noch, die Hamas als das einzustufen, was sie ist: Eine diabolische Terrororganisation. Geschäfte mit den Geldgebern der Hamas sind der Schweiz unendlich wichtiger.

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