Teil 4 der Serie «Aus einer anderen Zeit»:  Zeit, Lisel loszulassen
Fiktionale Texte
Basel-Stadt

Teil 4 der Serie «Aus einer anderen Zeit»: Zeit, Lisel loszulassen

08.02.2023 09:53 - update 08.02.2023 09:57

Viktoria Stauffenegger

Immer wieder stösst man in Brockenhäusern auf Schriftstücke aus einer anderen Zeit. Von Fundstücken inspiriert entstand auf der Baseljetzt-Redaktion eine Serie mit fiktionalen Geschichten über Menschen aus Basel.

Auf der Suche nach Schriftstücken und Notizen aus einer anderen Zeit ist die Baseljetzt-Redaktion durch die Brockenhäuser der Stadt Basel gestreift. Inspiriert von alten Postkarten, Notizen und Fotos sind fiktionale Geschichten von Baslerinnen und Baslern aus verschiedenen Jahrzehnten entstanden.

Der dritte und letzte Text der Serie bezieht sich auf diese Postkarte aus Nebraska aus dem Jahr 1969:

Teil 4 der Serie «Aus einer anderen Zeit»:  Zeit, Lisel loszulassen
Die Vorderseite der Postkarte. Tonys Freund grüsst ihn aus Omaha…
Teil 4 der Serie «Aus einer anderen Zeit»:  Zeit, Lisel loszulassen
…und bedankt sich für die schöne Zeit in Europa.

Zeit Lisel loszulassen

Es ist warm draussen. Nicht mehr so heiss, wie es tagsüber war. Aber angenehm warm. Die Luft riecht nach Grillhähnchen, nach Rheinwasser und der ein oder anderen Zigarette. Die Stimmen sind gedämpft, ab und zu hört man ein schallendes Lachen. Es ist noch hell, aber bald wird die Sonne sich verabschieden und der Mond sein Gesicht zeigen. Ich spaziere durch diese magische Stimmung, die Stimmung an einem warmen Sommerabend im Juli 1969, in Basel am Rhein. Ich geniesse das Vibrieren der Umgebung, das Leben, das hier herrscht.

Seit meine Frau, meine Lisel verstorben ist, bin ich oft alleine. Ich fühle mich nicht einsam. Aber alleine bin ich trotzdem. Ich sauge die Stimmung ein, nehme sie in mir auf, mache dafür kurz halt und setze mich auf eine Bank. Der Rhein hat mir schon immer gefallen, das Fliessen des Wassers hat etwas Beruhigendes, die Häuser auf der anderen Rheinseite haben etwas Ehrfürchtiges. Ich liebe diese Stadt, auch wenn mir nichts anderes übrigbleibt, als diese Stadt zu lieben. Viel weiter fort bin ich nicht gekommen. Hat sich nicht ergeben, Lisel meine Frau wollte nie weit weg. Ich hingegen wäre gerne weit gereist.

Ich nehme wahr, wie sich mir ein Pärchen nähert, stehenbleibt und fragt: «Excuse me, could you help us?» Ich schaue auf und vor mir stehen zwei gut gekleidete Amerikaner. Die Frau hat lange braune Haare und einen bunten weiten Rock. Er trägt einen feinen Anzug. Ich merke, dass mich beide fragend anschauen. Zum Glück hat Lisel mir einmal einen Englischkurs zum Geburtstag geschenkt, damals als Lisel Basel nicht verlassen wollte, mein Fernweh aber zu gross war. Ich antworte also mit meinem brüchigen Englisch: «Of course, how can I help you?»

Sie fragen mich, warum so viele Menschen in einem Rhein baden würden. Ob das nicht dreckig sei, warum die Menschen diesen «Bach» runterschwimmen würden. Ich bin überrascht über die Fragen über den Rhein. Wir zwei hatten schon immer eine besondere Verbindung, der Rhein und ich. Im Rhein plantschte ich als Kleinkind mit Mutter und Vater nebendran, die mir zuriefen, ich solle mich nicht zu weit reinwagen.

Später lernte ich Lisel dort kennen. Lisel, meine grosse Liebe, die viel zu früh verstarb. Lisel, die das Wasser liebte. Meine Lisel, deren Asche bei der Rheinbestattung sich in tausend Staubteile über den Rhein legte. Exakt über diese Stelle, wo sie verstarb. Ich konnte Lisel auch nach ihrem Tod nicht loslassen. Der Rhein ist mein ständiger Begleiter. In meinen Gedanken versunken, höre ich, wie das Paar weitere Fragen stellt: wo man denn Badesachen ausleihen könne und, wie man den Ausstieg schafft? Den Ausstieg schaffen?

Das ist doch ganz einfach, ich schaue sie an und in der nächsten Sekunde hat mein Mund schon schneller gesprochen als mein Gehirn überhaupt nachdachte. «We can go for a swim» sage ich mit meinem Baseldeutschen Akzent. Die beiden strahlen mich an. Ohje, was habe ich mir da eingebrockt. Die zwei entscheiden sich, in Unterwäsche baden zu gehen. Nun gut, mir soll`s recht sein. Ich habe meine Badehose immer unter der Hose an, wenn ich an den Rhein gehe. Nur für den Fall, dass ich Lisel nah sein will.

Wir laufen rheinaufwärts bis zur Wettsteinbrücke, biegen dort auf das kleine Weglein ein. Ich zeige ihnen, wie man den Einstieg in den Rhein schafft. Das Wasser ist warm, es glitzert. Ich denke an Lisel, ach Lisel, wie hättest du Freude gehabt, diese Menschen kennenzulernen, zu erfahren, wer sie sind. Aber du bist gegangen. Das Wasser zog dich aus dem Leben. Es nahm dich mit in seine Tiefen. Es nahm dich mit in das Schwerelose, in das Rauschen, in das dunkle und doch helle Licht, als du gingst. Dieses Licht spiegelt sich auf dem Wasser wider.

Die zwei Amerikaner, John and Anna aus Omaha, Nebraska, auch sie steigen in den Rhein und machen ihre ersten Schwimmzüge. Auch ich mache die ersten paar Züge. Es herrscht eine Ruhe, die es nur beim Rheinschwimmen gibt. Und dann kommen die Brückenpfeiler. Die Brückenpfeiler, bei denen es immer heisst: «Vorsicht nicht zu nahe daran vorbei schwimmen, dort entstehen Soge!» Trotzdem schwimme ich nahe daran vorbei, ob ich das bewusst oder unbewusst tue, kann ich nicht sagen. Der Sog zieht mich hinunter in die Tiefe. Zu Lisel.

Das Wasser hüllt sich um mich. Ich kann nicht mehr atmen. Meine Lunge füllt sich mit Wasser. Meine Ohren nehmen nur das dumpfe Rauschen wahr, den Druck, das Schwerelose. Ich sacke ab, ich will aufgeben. Ich will zu Lisel. Ich wehre mich nicht, Ich mache mich schwer, lasse mich fallen. Lasse mich vom Sog nach unten ziehen, nein, ich werde runtergezogen. Als würde eine Hand mich beschützend nach unten drücken. Nun sehe ich sie, meine Lisel. Du kannst loslassen, sagt sie zu mir. Lass los mein liebster Tony.

Ich werde dich begleiten und beschützen, wo auch immer du hingehst. Ich sah Lisel wie sie tanzte, wie sie lächelte, wie sie ihre Arme um mich schlang. Ich verschwinde nach unten. Spüre, wie sie mich nach unten zieht. Sie will, dass ich lebe, sie will, dass ich nicht auf die gleiche Art und Weise sterben muss. Sie will, dass ich weiterlebe. Ich komme unten an, der Sog lässt nach, ich schwimme nach oben, eine Hand greift nach mir. John. Ich schnappe nach Luft, viel Luft. Röchle.

Eine Frau schreit: «Is he okay?». Ich bin okay. John und Anna helfen mir beim Ausstieg, kümmern sich um mich. Ich fühle mich benommen. Ich habe Lisel gesehen. Ich war ihr nahe. Sie wollte, dass ich lebe, sie war diejenige, die meine Hand nach unten zog. Mich aus dem Sog rettete. Sie wollte, dass ich mein Leben lebe, die Weite der Welt erlebe, sie wollte, dass ich loslasse, von ihr, dem Schmerz und dem Rhein. Ich durfte sie jetzt loslassen. Sie gehen lassen. Sie mit dem Rhein weiterschwimmen lassen.

John und Anna bringen mich nach Hause. Einen Monat später schicken sie mir eine Karte aus Omaha, Nebraska. Ich sehe die Karte an. Sie zeigt diese fremde Stadt und ich bin mir sicher, dies ist mein Zeichen, in die weite Welt zu ziehen und Basel hinter mir zu lassen.

Du hast eine alte Postkarte, ein altes Dokument, einen Brief oder ein altes Foto, welches du gerne in einer fiktiven Geschichte wiederfinden würdest? Schick es uns zu auf lea.meister@telebasel.ch.

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